Chios gilt als Heimat des Homer. Spuren hat er auf der Insel nicht hinterlassen. Sehenswertes gibt es dennoch genug: Genuesische Burgen, wilde Berglandschaften, Orangenhaine hinter hohen Mauern, viele mittelalterliche Kirchlein, ein Geisterdorf und goldglänzende mittelbyzantinische Mosaike im Kloster Nea Moni.
Teil 1 – Keine Spur vom Dichterfürsten Homer
Die Inselhauptstadt von Chios hat sich ganz Kleinasien zugewandt. Das türkische Cesme liegt schräg gegenüber, moderne Fähren brauchen bis dorthin nur 45 Minuten. Das hilft Chios in den jetzigen Krisenzeiten: Das ganze Sommerhalbjahr über kommen täglich Hunderte von türkischen Kurzurlaubern auf die griechische Insel und lassen hier viel Geld. Kein Wunder, dass viele Tavernen inzwischen schon über Speisekarten auf Türkisch verfügen.
Die Inselhauptstadt
Chios unterhielt außer in den letzten 100 Jahren immer enge Verbindungen zu Kleinasien. Von hier kamen die Häute, die in den großen Gerbereien der Inseln weiterverarbeitet wurden, ins Ottomanische Reich wurde ein Großteil des Mastix aus dem Inselsüden exportiert. Von den Gerbereien zeugen heute nur noch leerstehende Hallen nahe den drei jetzt im Meer stehenden Mühlen im Norden der Stadt, von der Anwesenheit der Türken auf der Insel Reste eines türkischen Friedhofs, die Ruinen eines Hamam, ein marmorner Brunnen aus dem Jahr 1768 und die Bairakli-Moschee, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurde, als die osmanische Herrschaft über die Insel schon fast Vergangenheit war. An historischen Bauten ist die Inselmetropole ansonsten arm: die Mauern des ehemaligen Kastros sind kümmerlich, nur die Korais-Bibliothek von Bedeutung. 1792 gegründet wurde sie schnell zu einem Sammelpunkt von Griechen aus dem ganzen Osmanischen Reich, die hier Studien betrieben und ein neugriechisches Selbstverständnis zu etablieren.
Der Kambos
Nähert man sich der Stadt von See her, wirkt sie wie eine Oase zwischen steil auf nahezu 800 Meter Höhe ansteigenden, fast völlig kahlen Gebirgshängen und dem Meer. Nur nach Südwesten hin wird die Landschaft etwas lieblicher, deutet sich der sieben Kilometer lange und zwei Kilometer breite Kambos an, eine der fruchtbarsten Ebenen der Ägäis. Zwei jetzt nur noch im Winter Wasser führende Bäche und reichlich Grundwasser dicht unter der Oberfläche ermöglichten schon in der Zeit der genuesischen Herrschaft über die Insel (1346-1566) eine intensive wirtschaftliche Nutzung. Hinter hohen Mauern wurden Obst und vor allem Zitrusfrüchte angebaut. Im Kambos wohnten nie gewöhnliche Bauern. Hier teilten sich genuesische Kaufleute und byzantinische Bauern sowie reiche Chioten etwa 200 Latifundien. Um keine Anbaufläche zu verschenken, drängten sie die acht Dörfer der einfachen Bevölkerung, die Kambochoria, an den wasserärmeren Rand der Ebene. Die Oberschicht ließ sich auf ihren Grundstücken zunächst festungsartige Wehrtürme, sogenannte Pyrgoi, erbauen. Im 17. und 18. Jahrhundert nahm man ihnen den wehrhaften Charakter weitgehend und gestaltete sie wohnlicher. Im Erdgeschoss lagen nun die Wirtschafts- und Lagerräume, im Obergeschoss lebte man und empfing Gäste. Mehrere dieser alten Gutshöfe fungieren jetzt als stimmungsvolle Pensionen oder gar stilvolle Hotels bis hin zur Luxusklasse, andere beherbergen schöne Tavernen. Hier zu Fuß zu gehen, ist ein Vergnügen: Außer Orangen, Zitronen und Mandarinen wachsen hier auch Pinien, Palmen, Opuntien, Linden und Walnussbäume; Hibiskus und Bougainvilleen tauchen Mauern und Hauswände in eine üppige Blütenpracht.
Mosaike von Weltrang
In den Bergen westlich der Inselhauptstadt verbirgt sich eine der kunsthistorisch bedeutendsten und atmosphärisch dichtesten Sehenswürdigkeiten der Insel, das mittelalterliche Kloster Nea Moni. Gleich links vom Klostertor birgt eine kleine Kapelle in simplen Vitrinen die Schädel zahlreicher Mönche, Frauen und Kinder, die am Karfreitag 1822 von türkischen Truppen hier im Kloster ermordet wurden. An jenem Tag hatten etwa 3500 Frauen und Kinder bei den damals 600 im Kloster lebenden Mönchen Schutz vor den Truppen des Sultans gesucht. Niemand überlebte. Der besondere Klosterschatz sind seine mittelbyzantinischen Mosaike mit Goldhintergrund aus dem 11. Jahrhundert. Es lohnt, sie eingehend zu betrachten. Anders als in anderen Kulturen sind byzantinische Mosaike ja keine in Steinchen umgesetzte Malerei, sondern stellen eine Kunstform mit eigenen, nur ihr immanenten Ausdrucksmöglichkeiten dar. Ansprüche orthodoxer Theologie an die bildhafte Darstellung christlicher Themen vermögen sie wie keine andere Kunstform umzusetzen. Die großen Goldflächen fangen das Licht auf und geben es an den Raum zurück. Damit gewinnt das Licht eine andere Qualität, geht als „Sendelicht“ von Christus und den heiligen Gestalten aus.
In der Fortsetzung lesen Sie über Dörfer, die aus dem Dornröschenschlaf erwachten, von der heiligen Markella und ein bisschen Homer.
Text und Fotos von Klaus Bötig