Etwa 1000 Griechen kamen in den sechziger Jahren von der Insel Rhodos ins Oberbergische – fast alle sind inzwischen zurückgekehrt. Im „Café Gummersbach“ sprach unsere Autorin mit ihnen über die Krise ihres Landes – und das Verhältnis zu den Deutschen.
Es ist Juli, zwölf Uhr mittags, 32 Grad. Kaum ein Tourist auf der Ferieninsel Rhodos verirrt sich jetzt in das kleine Kafenion mit dem merkwürdigen Namen „Café Gummersbach“. Ein paar Zweiräder knattern durch die engen Gassen, sonst ist es ruhig im Dorf Afandou. Vor dem Café stehen Tische und Stühle im Schatten eines mächtigen Baumes, ein paar Griechen diskutieren über die Zeitung gebeugt. „Meinung“ heißt das Lokalblatt, das jeden Montag erscheint. Oben links prangt ein Foto von einer geknüpften Schlinge, wie man sie aus Wildwestfilmen kennt. Ein 63-jähriger Inselbewohner hat sich erhängt. „Er war krank und hatte kein Geld“, liest einer vor. Nur einen Moment später lachen die Männer wieder. Alle lachen hier viel. Wer als Tourist hier ist, merkt nichts von einer Krise.
Vielleicht bessert sich die Lage allmählich? „Nein, gar nicht“, sagt Giorgos Vasilarakis. „Wir haben uns nur daran gewöhnt.“ Auch darüber lacht er, nur leiser. Vasilarakis hat bis vor zwölf Jahren in Deutschland beim Roten Kreuz Sanitäter ausgebildet. Jetzt arbeitet er an der Rezeption eines Hotels direkt am Strand. Sieben Monate, sieben Tage die Woche, von halb drei mittags bis elf Uhr am Abend, oft bleibt er bis nach Mitternacht. Alle zwei Monate ist ein Tag frei. Mehr geht nicht, er hat keine Vertretung. Sein Lohn beträgt nicht viel pro Monat. Vielleicht kommt das Geld erst Monate später, viele Hoteliers sind in Zahlungsverzug. In den Wintermonaten bekommt Vasilarakis rund 350 Euro Arbeitslosenunterstützung. Vielleicht aber auch nicht. „Es heißt, jetzt sollen erst die was bekommen, die die letzten Jahre nichts bekommen haben“, erzählt er.
Ob das Fakt ist oder Gerücht, weiß keiner am Tisch so genau. Auch nicht Sotiris Petrakis, Physiotherapeut und Stadtrat des Dorfs. Ein Ehrenamt. „Politik mache ich auf der Straße, am Telefon, im Internet und manchmal im Rathaus“, sagt er. Und im Café, dem Kafenion, jenem Hauptkommunikationszentrum der Griechen.
Beginn in einer Gießerei
Die Insel Rhodos ist die viertgrößte Insel Griechenlands und Hauptinsel der Gruppe Dodekanes in der Südost-Ägäis. Etwa die Hälfte der 120.000 Einwohner lebt in der Stadt Rhodos, deren Altstadt mit Großmeisterpalast und mächtigen Stadtmauern von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurde.
Petrakis ist der einzige am Tisch, der kein Deutsch spricht. Die anderen haben Jahre ihres Lebens in Gummersbach verbracht. Die Geschichte zwischen Afandou und der Handballstadt im Bergischen Land begann an einem Wintertag im Jahr 1961. Drei Männer aus Afandou, die auszogen, um Arbeit zu finden, landeten in der Gießerei der Gummersbacher Kesselfabrik Steinmüller. Sie hatten ein Zimmer mit Matratzen zum Schlafen, sie hatten Arbeit, und sie bekamen Geld dafür. Das reichte, um den Verwandten und Freunden auf Rhodos von ihrem Glück zu berichten. Denen reichte es, um ihrerseits die Koffer zu packen. Rund 1000 von ihnen kamen in den 1960er-Jahren nach Gummersbach – damals das halbe Dorf. Die Firma Steinmüller existiert heute nicht mehr, und die Griechen aus Afandou kehrten nahezu vollzählig auf ihre Heimatinsel zurück und bauten mit ihrem Geld und ihren Deutschkenntnissen den Tourismus mit auf. Jetzt versuchen sie zu retten, was zu retten ist.
Jorgos Chatziantonis ist Musiker, hat in Köln studiert. Er wartet auf seinen Sohn, der mit 29 Jahren das jüngste Mitglied im Stadtrat ist. Sein Sohn kommt nicht, er muss organisieren: einen Gesprächskreis für Selbstmordgefährdete und eine Benefizveranstaltung für krebskranke Kinder. Chatziantonis ist stolz auf ihn. „Politik hat auch eine Krise“, sagt er. Dass sich nun die junge Generation engagiere, macht ihm Mut.
Etwas zu verteilen haben die Jungpolitiker nicht. Bis 2011 gab es elf Bürgermeister, in jeder Stadt der Insel einen. Jetzt gibt es nur noch einen für ganz Rhodos und ehrenamtliche Stadträte in den Dörfern. Jeweils einer aus dem Dorf-Stadtrat sitzt zusätzlich im Rat von Rhodos. Sotiris Petrakis ist einer von ihnen.
Mehr als ein Drittel der Schulden getilgt
„Die Kommunen erhalten etwa 50 Prozent weniger Geld als vor der Krise“, sagt er. Für Rhodos mit seinen knapp 120 000 Einwohnern liege das Jahresbudget jetzt zwischen 80 und 90 Millionen Euro. „In den letzten drei Jahren haben wir mit keinem Projekt das Budget überschritten“, berichtet er. Zudem seien in den vergangenen vier Jahren 50 der 135 Millionen Euro Schulden getilgt worden. Wie das geht? „Wir sparen an Straßen, an Gebäuden, entlassen Mitarbeiter, kürzen die Löhne“, sagt Petrakis ruhig. Zusätzlich habe die Insel eine kommunale Steuer eingeführt, die bis zu ein Prozent des Einkommens beträgt.
Für die Dörfer gibt es kein eigenes Budget mehr. Sie dürfen nur Wünsche aussprechen, entscheiden muss Rhodos-Stadt. Und zwar praktisch über jede Glühbirne. Ist eine in der Straßenbeleuchtung kaputt, tagt der Stadtrat in Afandou, beschließt das Ersetzen der Birne und meldet die Entscheidung inklusive Begründung an Rhodos-Stadt. Von dort kommen dann Glühbirne und 30 Euro für den Kran. Die Dorfbewohner haben längst begriffen, dass es schneller hell wird, wenn sie die Glühbirne privat kaufen. „Das Gesetz ist sehr hart geworden, damit sich die Kommunen nichts einstecken“, sagt Petrakis. Projekte ab 120.000 Euro müssen auf Rhodos aufwändig EU-weit ausgeschrieben werden. In Deutschland liegt der Schwellenwert bei fünf Millionen. In vielerlei Hinsicht hat das Pendel weit in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. „Wo früher 30 Leute die Straße saubergemacht haben, sind es heute zwei“, sagt Petrakis. Tatsächlich wären vielleicht zehn notwendig.
„Wir versuchen, einen geraden Weg zu finden“
„Du versuchst für dein Land, für deine Stadt das Beste zu machen, aber du hast nicht die Mittel, um es zu tun“, fasst er zusammen. Kein Budget, kein Handlungsspielraum. Warum tut er sich das an? „Das ist keine Arbeit für mich“, sagt er. „Es macht mir Spaß.“ Er legt einen Euro für den Kaffee auf den Tisch und verabschiedet sich mit dem Wunsch, es mögen viele deutsche Touristen kommen. Dann verschwindet er um die Ecke. „Er hilft vielen Menschen. Auch in seinem Beruf. Viele alte Leute behandelt er umsonst“, sagt Fani Nikolis, Besitzer des Cafés. Über die Politik vor Ort sagt er: „Wir versuchen, einen geraden Weg zu finden.“ Über die Klientelpolitik in Athen: „Das war die größte Schweinerei aller Zeiten.“
Deutsche Touristen sind verblüfft über ein „Café Gummersbach“ mitten in einem griechischen Dorf und über einen griechischen Wirt, der ihre Sprache akzentfrei spricht. Man kommt ins Gespräch. Nikolis erzählt über die 23 Jahre, die er in Gummersbach verbracht hat, wo sein Klassenlehrer Handball-Idol Hansi Schmidt war. Denen, die es hören wollen, erzählt er über die Krise. „Was dahintersteckt, das sieht ja keiner“, sagt er.
Ein Liter Super für 1,74 Euro
Er erzählt vom Mindestlohn, der 585 Euro betrage. Dass es beim örtlichen Lidl teurer ist als bei dem in Deutschland und der Liter Super 1,74 Euro kostet, sehen die Touristen selbst. „Sie arbeiten sechs Monate hart für je 585 Euro, mit denen sie dann noch den Winter überleben müssen“, sagt Nikolis. „Wie soll das gehen? Sie zwingen die Leute zur Schwarzarbeit und zum Steuerhinterziehen.“ Er hat bei der „Bild“-Zeitung angerufen, ob sie einen Bericht über das Leben der Inselgriechen schreiben wollten. Sie wollten nicht.
Trotzdem, und das ist ihm ganz wichtig: „Krise hin, Krise her, Merkel hier, Merkel dort – wir mögen die Deutschen, und europafeindlich waren wir hier noch nie.“ Dass Teile der deutschen Medien die Angst schürten, als Urlauber in Griechenland nicht mehr sicher zu sein, sei „das Brutalste“ gewesen. Gerade hier in Afandou, wo „Gummersbach“ so etwas wie ein Zauberwort für ein Lächeln und ein Gespräch mit den Einheimischen ist. „Ohne Tourismus hätten wir all das hier nicht“, sagt Jorgos Vasilarakis, auch wenn „all das“ zunächst nicht viel erscheint. 70 Prozent der Einwohner von Rhodos arbeiten im Tourismus. Ohne den Tourismus blieben ihnen Sonne, Meer und eine großartige Kultur ganz für sich alleine – doch all das macht nicht satt, und wohin sollten sie dann mit ihrer „Filoxenia“, der sprichwörtlichen Gastfreundschaft.
Beliebtestes Fotomotiv in Afandou
Ein paar Kinder laufen lachend vorbei und winken Panagiotis Diakou. Er ist ihr Grundschuldirektor. Auch sein Gehalt wurde um 30 Prozent gekürzt, aber er liebt seinen Beruf. Mit den Zwölfjährigen der Abschlussklassen fährt er nach Athen. „Wir gehen mit ihnen ins Parlament“, sagt er, „und wir erklären ihnen, wie Demokratie geht. Das ist wichtig.“ Diakou war der erste in Gummersbach geborene Grieche. Seine Eltern erhielten damals einen Gutschein für das Phantasialand. Viele seiner Schulkinder verbinden mit Gummersbach schon nichts mehr.
Die offizielle Städtepartnerschaft ist in den letzten Jahren eingeschlafen. Die einen steckten im Nothaushalt, die anderen in der Krise. Nur mit privatem Engagement und Geld konnten Kinder aus Afandou am Gummersbacher Zirkuscamp teilnehmen. Die Altherren-Fußballer besuchen sich gegenseitig. Jorgos Chatziantonis veranstaltet in Gummersbach fast jedes Jahr einen Musik-Workshop. „Das alles darf nicht verloren gehen“, sagt Nikolis.
Den Winter über werden die Griechen hier alleine sitzen. Der letzte Ferienflieger geht Mitte Oktober. Die Hotels machen anschließend zu. Nur wenige sind in der Hand von Touristikkonzernen, die Einfluss auf die Fluggesellschaften hätten. Und so landen die Flieger im türkischen Marmaris – gerade 45 Kilometer Luftlinie von den historischen Stadtmauern von Rhodos entfernt. „Wir haben im Winter Tausende Arbeitslose auf der Insel. Eine bessere Marktlücke gibt's doch nicht“, sagt Fani Nikolis. Dann schließt er sein Café Gummersbach ab und steigt auf seinen Roller. Auf die eine Seite hat er eine griechische, auf die andere eine deutsche Flagge geklebt. Sein Roller ist eines der beliebtesten Fotomotive in Afandou.
Text und Fotos: Karin Grunewald