Von Sandra Weckert
Um dem Jungfrauen-Verschleiß des Minotaurus Einhalt zu gebieten, beschloss Theseus eines Tages, dem auf Kreta lebenden Ungeheuer den Garaus zu machen. Sein Vater Aegeus (auch Ägeus genannt), König von Athen, wartete an der Südostspitze Attikas, auf dem 60 Meter steil aus dem Meer herausragenden Kap Sounion auf die Rückkehr seines Sohnes – genauer gesagt, hielt er Ausschau nach einer Schiffsflotte mit weißen Segeln. Denn weiß war der Code für einen erfolgreichen Kampf, wohingegen schwarz den Tod seines Sohnes ankündigen sollte. Pech war nur, dass Theseus nach dem Sieg über Minotaurus vergessen hatte, die Segel von schwarz auf weiß zu wechseln. Der Vater, verzweifelt, stürzte sich angesichts des vermeintlichen Todes seines Sohnes vom Kap Sounion in die Fluten des Meeres. Diesem Mythos zufolge bekam das Ägäische Meer seinen Namen. Er könnte jedoch auch auf Ägea, eine Amazonenkönigin, die im Meer ertrank, zurückgehen oder auf eine alte griechische Stadt namens Äga.
Poseidon war ein „Verlierer"
„Entscheidend ist hier auch weniger, woher der Name des Meeres kommt, das ihr unter euch seht", sagt Maria zu ihrer Reisegruppe, während sie ihre vom Wind zerzausten, schwarz gelockten Haare aus dem Gesicht streicht. „Entscheidend ist vielmehr, was sich direkt neben euch befindet." Prompt lösen sich 20 Augenpaare von den schäumenden Wellen, die unter Kap Sounion wuchtig an den Felsen schlagen, und drehen sich nach rechts, wo sich das Wahrzeichen Attikas befindet: Der Poseidon-Tempel als stolzer Überlebender und Zeuge vergangener Zeiten. Der Kultbau, einer der wenigen zu Ehren des gefürchteten Meeresgottes und Kronos-Sohnes Poseidon, entstand 444 v. Christus. Wobei „gefürchtet" relativ ist. Die kleine Maria marschiert strammen Schrittes um den Tempel herum, während ihre Gefolgschaft sich allmählich in Kleingruppen auflöst und Dutzende Fotos geschossen werden. „Poseidon was some kind of a looser", resümiert Maria, und das Fotogeklicke endet für einen Moment. Poseidon ein „loser"? Mit so einem wuchtigen Tempel? Getuschel, Gemurmel, Gelächter. Maria, unbeirrt und sichtlich erfreut über das plötzlich erwachende Interesse, erläutert: „Der Meeresgott war sehr verzweifelt, da er nur einen Ort für sich erobern konnte. Andere Götter wie Athene oder Apollon sind ihm immer zuvorgekommen." Man denke nur daran, über wie viele Athene-Tempel man im Laufe eines Griechenland-Besuchs stolpere. Kap Sounion konnte Poseidon aber für sich erobern. Mit einem neckischen Augenzwinkern zeigt die Reiseführerin jedoch auf eine nicht weit entfernte Anhöhe, auf der sich ehedem ein Athene-Heiligtum befand. Maria genießt es, dass sich der Meeresgott selbst Sounion noch hat teilen müssen. Mit einer Frau.
Überbleibsel ehemaliger Lebendigkeit
Von Athene ist heute nichts mehr übrig. Im Gegensatz dazu strotzt der dorische, 449 v. Chr. von den Persern zerstörte und später wieder aufgebaute Marmor-Tempel des Meeresgottes vor Vitalität. „Von den ehemals 34 sechs Meter hohen und einen Meter dicken Säulen sind noch 18 mehr oder weniger vollständig erhalten," klärt uns Maria auf, während sie auf dem aus braunen Steinplatten gepflasterten Weg langsam wieder bergab schreitet, vorbei an Mauerresten, den letzten Überbleibseln einer ehemaligen Stadt. Erst Ende des 19. beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten die deutschen Archäologen, dass es hier nicht nur einen Kultbau, sondern auch ein dörfliches Leben gegeben haben muss. Eine minimalistische Skizze an der Mauer gibt eine vage Vorstellung davon, wie es hier einmal ausgesehen haben könnte. Abgebildet ist der Tempel, umsäumt von einer Stadtmauer, Häusern, Scheunen.
Münzen, Schiffe, Sklavenhände
„Sounion erlangte vor allem durch seine Lage Bedeutung, da man von dem Riff aus das Meer und damit die heranna-henden Schiffe beobachten und kontrollieren konnte", sagt Maria bedeutsam. „Während des Peleponnesischen Kriegs war es für die Krieger von diesem Standpunkt aus leicht, nahende feindliche Schiffe anzugreifen. Vor dem Persischen Krieg wurden hier rund 200 Schiffe gebaut." Seine Blütezeit erlebte der Wirtschafts- und Militärstandort im 4. und 5. Jahrhundert v. Chr. – auch durch die 10 Kilometer entfernten Silberminen von Lavrion. Dort entstanden die ersten Athener Münzen aus Silber, das 40.000 Sklavenhände dem Berg unter schwierigsten Bedingungen entrissen.
Säulenteile als Souvenir
Schon allein die Anfahrt nach Sounion – wahlweise mit dem Auto oder mit dem Bus – den Saronischen Golf entlang ist die Reise zu dem von Athen knapp 70 Kilometer entfernten Ausflugsziel wert. Die Küste hat viele kleine und größere Strände, etwa Voula, Vouliagmeni, Varkiza, Agia Marina oder Saronida. Um originale Säulenteile zu sehen, lohnt aber auch ein Besuch in diversen deutschen, englischen oder französischen Museen. Reisende vergangener Jahrhunderte brachten sie als Souvenir von ihrem Aufenthalt mit. Heute würde derartiges Verhalten strengstens geahndet. Ersatz-Souvenirs finden sich in einem kleinen Shop, direkt neben einem schicken Café mit launischem Personal. Neben einem Wanderstock als Marschausrüstung für den kleinen Aufstieg gibt es Sirtaki-CDs und Olympia-Mützen von 2004 zu kaufen. Die salzige Luft, die Ruhe, vor allem außerhalb der Hochsaison, sind unbezahlbar.
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