In kaum einem anderen Inselort Griechenlands begegnen sich Geschichte und Geschichten so eng wie im Hafenstädtchen Pythagorion auf Samos. Einige Persönlichkeiten kennt bei uns jedes Kind. Anderen begegnet der Besucher vor Ort.
Ganze Schülergenerationen mussten Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates“ auswendig lernen, und der berühmteste Lehrsatz des Mathematikers und Philosophen Pythagoras ist jedem einigermaßen Gebildeten in Fleisch und Blut übergegangen: a² + b² = c². In anderen Worten: Die Summe der Flächeninhalte über den Kathetenquadraten im rechtwinkligen Dreieck ist gleich dem Flächeninhalt des Quadrates über der Hypothenuse. Der Hafen, den der Tyrann Polykrates im 6. vorchristlichen Jahrhundert anlegen ließ, trägt seit 1955 den Namen des Pythagoras.
Zum Begriff Tyrann muss man einiges erklären. Heute ist das Wort total negativ besetzt; vielleicht auch durch Friedrich von Schiller. „Zu Dionys, dem Tyrannen schlich, Damon, den Dolch im Gewande…“ Das aber ist eine andere Ballade. Der Tyrann, den Schiller in der „Bürgschaft“ beschreibt, ist einer von der bösen Sorte. Er herrschte allerdings nicht über Samos, sondern in Syrakus auf Sizilien. Tyrann war eine Bezeichnung für einen Alleinherrscher. So merkwürdig es heute klingt: Es gab wohl auch gute Tyrannen.
Polykrates wurde in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts auf Samos geboren. Mit Hilfe seiner Brüder Syloson und Pantagnotos schwang er sich zum Alleinherrscher auf. Er führte mit einer starken Flotte und einem großen Söldnerheer viele Kriege, erweiterte sein Herrschaftsgebiet bis aufs Festland. Vielleicht hätte er sich bescheiden sollen. Der persische Statthalter Orontes lud ihn zum Gastmahl aufs gegenüber liegende Festland. Polykrates wurde von seinem Gastgeber in Sichtweite seiner Insel Samos gekreuzigt.
Der bekannteste Sohn Pythagorions
Der heutige Hafenort Pythagorion liegt auf der antiken Stadt Samos. Die alten Kaianlagen werden noch heute genutzt. Polykrates ließ den ersten künstlichen Hafen der Ägäis anlegen. Auch die 6.500 Meter lange Stadtmauer und einen Tempel für das Hera-Heiligtum gab er in Auftrag. Er holte jedoch nicht nur Ingenieure an seinen Hof, sondern auch Bildhauer, Musiker, Poeten. Nur mit einem ortsansässigen Gelehrten lebte er auf Kriegsfuß. Das war der bekannte Mathematiker, Astronom und Philosoph Pythagoras, der um 580 auf Samos geboren wurde. Er studierte im Ausland, in Konstantinopel, Ägypten, wahrscheinlich auch bei Thales in Milet. Angeblich musste er vor Polykrates fliehen, versteckte sich in einer Höhle, entkam und wanderte nach Unteritalien aus, wo er auch starb.
Der berühmteste antike Tunnel
Den spektakulärsten Bauauftrag aus der Herrschaftszeit des Polykrates – er regierte die Insel von 538 bis 522 vor Christus – erhielt ein Ingenieur aus Megara bei Athen. Der Tyrann wusste, dass seine Residenz im Falle einer Belagerung ausgetrocknet werden konnte. Eine sehr ergiebige Quelle gab es auf der Insel. Sie sprudelte jedoch nicht in den Bergen oberhalb der Stadt, sondern auf der entgegengesetzten Seite des Gebirges. Einen um den Berg geführten Kanal hätten Feinde schnell zerstört. So entstand die Idee, einen von außen unsichtbaren Tunnel durch den Berg zu graben. Zeit war kostbar. Deshalb schlug Baumeister Eupalinos vor, den Bau von beiden Seiten gleichzeitig zu beginnen. Eine bis heute bewunderte technische Meisterleistung. Nach fünfeinhalb Jahren trafen sich die Bautrupps tatsächlich in der Mitte des Weges. Ende des 20. Jahrhunderts, bei der Untertunnelung des Ärmelkanals, hätten britische und französische Baukolonnen fast aneinander vorbei gebohrt. Nicht so die alten Griechen.
Eupalinos ließ die exakte Höhe durch genaue Messungen am Berghang festlegen. Wie man es damals anstellte, im Berg auf dieser Höhenlinie zu bleiben, ist bis heute nicht ganz geklärt. Man traf sich mit einer ganz geringen Abweichung. Um nicht parallel aneinander vorbei zu graben, wurde in der Mitte ein Trick angewendet: Eine der beiden Tunnelröhren wich in leichtem Bogen zur anderen ab. War man auf der gleichen Höhe, musste man sich treffen. Weitere Bauabschnitte waren nötig. In den Tunnel musste zusätzlich ein Graben mit leichtem Gefälle eingefügt werden, damit das Wasser floss. Das tat es bei 0,5 Prozent Gefälle. Dann war die Quelle einzufassen und zu verstecken. Um Verunreinigungen zu vermeiden, wurde der Kanal auch auf der Stadtseite bedeckt. Das Wasser floss quasi unterirdisch in die Brunnen von Samos. Der Wasserkanal funktionierte vermutlich an die tausend Jahre. Erst im 7. Jahrhundert nach Christus gab man ihn auf. Die Eingänge verfielen, Vergessen legte sich über das Meisterwerk. Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts legten den Eingang zwischen 1971 und 1973 frei. Man kann inzwischen einige hundert Meter in den Eingang gehen. Sogar Licht ist gelegt.
Das Kloster „Maria Grotte“
Aus Pythagorion führen zwei Wege zum Eingang des Tunnels, die gut zu Fuß zu erledigen sind. Eine Autostraße biegt von der Hauptstraße nach Vathy ab. Zwei Kilometer sind es durch eine Landschaft, die immer wieder Blicke auf den Hafen frei gibt. Nach einem Kilometer gabelt sich der Weg. Rechts oben im Hang sieht man das Kloster der Panagia Spiliani. Es wurde vor einer Grotte errichtet, in der man angeblich im 16. Jahrhundert zwei Ikonen entdeckte. Ihnen werden wundertätige Kräfte zugeschrieben. Ein reiner Fußweg führt ferner von der Straße zum Flughafen in den Berg zum Tunnel des Eupalinos. Beide Wege sind ausgeschildert.
Mit Pythagorion ist auch ein Kapitel des griechischen Freiheitskampfes verbunden. Ab 1821 gab es mehrmals Aufstände gegen die türkischen Besatzer. Da Samos dicht vor der Küste Kleinasiens liegt, hatten die Soldaten des Sultans es leicht, Nachschub zu organisieren. Wundersame Dinge werden berichtet. So soll sich bei einer Belagerung, als das Trinkwasser knapp wurde, auf dem Kastrohügel eine neue Quelle aufgetan haben. Dies wird ebenso als Hilfe Gottes gefeiert wie ein Sieg von 70 Schiffen des griechischen Kapitäns Andreas Miaoulis vor der Insel gegen eine dreifache türkisch-ägyptische Übermacht.
„Christus rettete Samos am 24. August“
Führer des Widerstandes war Likourgos Logothetis. Er wurde 1772 als Jorgos Paplomatas in Karlovasi auf Samos geboren, studierte im Ausland, war Sekretär von Alexandros Ipsilanti, dem Organisator der Freiheitsgruppe „Philiki Etaireia“, der Gesellschaft der Freunde. Der Coup gegen die türkische Übermacht vom 6. August 1824 wird bis heute gefeiert. Zur Erinnerung wurde auf dem Kastrohügel neben alten Ruinen und einem neuen Verteidigungsturm eine Kirche errichtet, der Metamorphosis, der Erscheinung Christi geweiht. „Christus rettete Samos, 24. August 1824“ steht auf dem Sockel eines Denkmals zu Ehren von Logothetis im Hof der Kirche.
Auch Pythagoras wird seit 1988 mit einem Denkmal geehrt. Am Ende des alten Hafenkais steht er überlebensgroß mit einem Dreieck in der linken Hand. Die ausgestreckte Rechte weist auf zwei Stäbe und bildet dadurch mit dem Körper wiederum ein Rechteck. Eine Inschrift verrät: „Pythagoras, der Samiote, 580-496 vor Christus“.
Konrad Dittrich
Unser Fotos (© GZ/jh) zeigen ein altes Frachtschiff das vor einer Taverne im Hafen von Pythagorion ankert und eine Büste es Phytagoras.