An der bulgarischen Grenze war Schluss mit lustig. Die Grenzbeamten waren zwar weder des Griechischen noch des Englischen mächtig. Dennoch wusste der Reisende anhand der Mimik und Gestik des säuerlich dreinblickenden Kontrolleurs: Es war Zeit zu gehen.
Nachts um 3 Uhr. Raus aus dem Zug, der nach Sofia führt, und zu Fuß zurück an die griechische Grenze gestapft. Solche und andere exklusive Erfahrungen kann ein EU-Staatsbürger erleben, wenn er mit dem Balkanticket reist (und sich vorher nicht gründlich informiert hat). Denn Bulgarien ist bekanntlich (noch) kein EU-Mitglied*. Und wenn der erforderliche Reisepass nicht zur Hand ist, heißt es: „Kommen wir nicht rein in die EU, müsst ihr auch aus unserem Land draußen bleiben." Anders die Türkei. An der Grenze empfängt das Bahnpersonal den Reisenden mit frischen Handtüchern und Kaffee. In fünf Tagen drei Länder besichtigen ist nicht machbar? Ist machbar. Aber teuer? Auch nicht teuer. Doch flexibel sollte der Reisende sein. Deswegen heißt das Balkanticket auch nicht Balkanticket, sondern „Balkan Flexipass".
So funktioniert's: Gekauft, geprüft und „gebalkant"
Den Flexipass gibt es in allen Hauptzweigstellen der Bahn (z. B. in der Sinastraße, Athen), allerdings nur in Verbindung mit einem Personalausweis, da der Flexipass individuell ausgestellt wird. Danach tickt die Uhr, und Zeit ist im wahrsten Sinne Geld. Denn: Das Ticket ist vom Zeitpunkt der Registrierung nur einen Monat gültig. In diesen 30 Tagen kann man wahlweise 5, 10 oder 15 Tage quer durch sechs Länder in Südosteuropa reisen. Diese Tage müssen nicht hintereinander abgefeiert, sondern können beliebig genutzt werden. Zur Veranschaulichung ein Beispiel. Paul, 27 Jahre, hager, mit leichtem Bauchansatz, startet mit der pfundigen Freundin Gitte, 25, rotgelockte Haare, den Balkantrip in Athen. Fünf Tage Zugfahrt sind innerhalb des Trips eingeplant, also zahlt Paul 80 Euro und Gitte – da jünger – 48 Euro. Die erste Station – nach sechs Stunden Zugfahrt, mit Verspätung und in Larissa verpasstem Anschluß – lautet Volos. Feine, saubere Sandstrände und eine charmante Altstadt verleihen dem kuscheligen Städtchen romantischen Charme. Im Gegensatz zu Meteora, der nächsten Station auf der Reise, finden sich günstige Übernachtungsmöglichkeiten zur Genüge, um ein paar Tage länger verweilen zu können. Lediglich bei den Lebensmittelpreisen – kaum zu glauben, aber wahr – läuft Volos Athen den Rang ab.Mit der Bahn geht's zurück nach Larissa und 4,5 Stunden später treffen die beiden in Kalambaka ein. Busse oder Taxis führen die Serpentinen hinauf zu den zum Weltkulturerbe gehörenden Meteora-Klöstern, westlich des Pindos-Gebirges in Thessalien. Wo früher das Ägäische Meer tobte, bestimmt heute eine von Erdbeben zerklüftete Felslandschaft das Bild. Der Name „Meteora" leitet sich ab von „meteorizo", was so viel wie „in der Luft schwebend" bedeutet. Damit wird die Lage der insgesamt 24 einzelnen Klöster und Eremitagen beschrieben, die auf steil in die Höhe ragenden Felsen gebaut wurden, sodass sie bei dunstiger Luft manchmal zu schweben scheinen. Sechs von ihnen sind heute noch bewohnt und können besichtigt werden. Die restlichen achtzehn Klöster sind entweder zu schwer zu erreichen oder wurden wegen Einsturzgefahr verlassen. Lange Röcke für die weiblichen (bereits mit einer Hose bedeckten) Beine sind obligatorisch, genauso wie der Eintritt von jeweils rund drei Euro. Besonders sehenswert ist Metamorphosis, das mit 60.000 Quadratmetern größte der Klöster, mit beeindruckender, in den Fels eingearbeiteter Architektur. In der reichlich verzierten und bemalten kleinen Kirche erzählt ein Mönch, dass die bunten Wandmalereien seit einem halben Jahrtausend nicht erneuert, sondern lediglich mit speziellem Reinigungsmitteln am Leuchten gehalten werden. Ein Ostiarium gilt es noch zu entdecken, einen alten Speisesaal in einem Gewölbekeller, in welchem vor einigen hundert Jahren noch 300 Mönche gespeist haben (heute leben in den alten Gemäuern noch drei Mönche), sowie die ehemalige Küche mitsamt mittelalterlichem Inventar. Genug gesehen. Das Balkanticket will vollständig genutzt werden und so fährt das Pärchen noch am selben Abend – und damit ohne einen weiteren Tag auf seinem Ticket zu verlieren – nach Thessaloniki weiter.
Von schmucken Schatztruhen und rüden Grenzkontrollen
Nach ländlichen Gefilden lockt diese Stadt nun mit Großstadtflair. Sehenswürdigkeiten sind jedoch eher mühsam zu finden, da sie oft versteckt liegen und schlecht ausgeschildert sind. Lohnenswert ist ein Blick in die vielen kleinen Kirchen, da sich hinter den unscheinbaren Mauern manchmal wahre Schatztruhen befinden. In der Kirche des Heiligen Demetrios bestaunt Gitte die Fresken und Ikonen, während Paul durch die unterirdischen Geheimgänge wandert. Das Wahrzeichen Thessalonikis, der Weiße Turm, sowie die Statue von Alexander dem Großen hoch zu Ross, beide am Hafen, die Burgruine über der Stadt und die alte Stadtmauer wollen gesehen sein, bis es ein paar Tage später weiter geht, diesmal über die Staatsgrenze hinaus, nach Sofia, der Hauptstadt Bulgariens. Sieben Stunden und zwei – teilweise sehr rüde – Passkontrollen später gönnen sich Gitte und Paul das während ihres Trips wohl günstigste und reichhaltigste Tavernenessen und überlegen, wohin die letzten beiden verbleibenden Zugtage ihres Balkantickets gehen sollen. Der Basar ruft, also ab in die Türkei, denn Istanbul ist nicht weit.
Tanz, Tee und Tabak – Frauen hinter Gittern
Durch die Grenzkontrollen rollt der Zug zwei Stunden später in die türkische Hauptstadt ein. Der erste Gang führt zum Geldautomaten, um mit türkischen Liren bezahlen zu können, der zweite zum Tourismusbüro. Was gibt's zu sehen? So viel, dass auch ein Aufenthalt von mehreren Tagen nie langeweilig wird, noch dazu, da Unterkünfte mit 10 Euro pro Person locken. Ob eine Massage in einem türkischen Bad, ein Besuch in einer der zahlreichen Moscheen oder ein traditioneller Derwisch-Abend mit Tanz, Tee und ein, zwei Runden Backgammon – in Istanbul spürt man den Spagat zwischen osteuropäisch-muslimisch geprägtem und westlichem Lebensgefühl. Mehrmals am Tag ertönt das Gebet des Imam durch Lautsprecher über die ganze Stadt. In der blauen Moschee erklärt ein kundiger Türke Gitte und Paul, dass es keine Frage der Gleichberechtigung sei, warum die Frauen hinter vergitterten Holzwänden beten müssen, wohingegen die Männer sich in der Mitte der Moschee versammeln. „Beim Gebet knien wir neben- und hintereinander. Wenn eine Frau vor einem Mann knien würde, könnte der Mann unsittliche Gedanken bekommen." Ein weiterer Unterschied zur abendländisch-christlichen Tradition ist die Verzierung der Moscheen mit Blumen und Koranversen anstatt mit Bildern. „Gott und die Heilsgeschichte ist nicht fass- und damit in Bildern darstellbar", führt der Kundige weiter aus. Der obligatorische Basarbesuch zur Ersteigerung einer Wasserpfeife für umgerechnet 15 Euro rundet den Einblick in eine etwas andere und doch so nahe Welt ab.
Mit dem letzten noch offen stehenden Zugtag war geplant, den Weg von Istanbul zum mehrere hundert Kilometer entfernten Hafen Ayvalik an der kleinasiatischen Küste zu überwinden. Pech nur, dass in der Türkei gen Süden hin kein Schienenverkehr existiert. Gitte und Paul, verwöhnt von den günstigen griechischen Transportmittelpreisen, zahlen für Bus und Fähre von der kleinasiatischen Küste bis nach Lesbos umgerechnet rund 75 Euro. Von dort geht's nach einem erholsamen Tag am Strand mit der Nachtfähre zurück nach Athen.
Das Fazit: Theoretisch gut, praktisch ausbaubedürftig
Vor allem die Hotelübernachtungen strapazieren das Reisebudget erheblich. Dennoch bietet kaum ein anderes Ticket die Möglichkeit, „unlimited rail travels in Southeastern Europe (zwischen Bulgarien, Griechenland, der Früheren Jugoslawischen Republik Mazedonien, Rumänien, Türkei sowie Serbien-Montenegro) at spezial prices" – so lockt der Prospekt – zu erleben. Spätestens wenn man Griechenland verlässt, stößt man jedoch auch an die Grenzen des Bahnwesens: Schlecht ausgebaute Strecken, beschränkter Schienenverkehr, rüde Grenzkontrollen (gegenüber Ausländern) und Zuschläge für Nachtzüge in Höhe von 25 Euro lassen die Frage aufkommen, ob da nicht die Hochzeit vor dem Ehemann da war. Das Ticket ist an sich eine gute Idee. Um es in der Praxis allerdings optimal nutzen zu können, müssen noch einige logistische und kulturelle Baustellen beseitigt werden.
Sandra Weckert
© Griechenland Zeitung
* Diese Reise fand statt im Jahre 2006, kurz darauf entstand dieser Text. Diese Reportage haben wir im September 2014 von unserer alten Internetseite in unseren neuen Internetauftritt integriert.