Venezianische Familienwappen über Hausportalen, verlassene katholische Klöster und verstreute byzantinische Kapellen, weißer Marmortempel im Ackerland, Landwein und Zitronenlikör, schmale Straßen an Bergkanten, silbergrün von Olivenbäumen, Felsentürme, Sandstrände hinter Schilfgürteln, Landtavernen unter Platanen und Cafés auf Dorfterrassen ... unzählig die Eindrücke, die zu Naxos gehören, der Insel, die von vielen als „schönste der Kykladen“ bezeichnet wurde, mit 428 qkm die größte des Archipels.
Im Streiflicht: 1. Die „Chora“
Wenn man mit dem Schiff ankommt, meint man, Naxos habe all seine Schätze bereits am Hafen ausgebreitet, so reich präsentiert sich die erste Ansicht der in der Mitte der Inselwestseite gelegenen Hauptstadt: Linkerhand erhebt sich auf dem Inselchen „Sto Palati“ („Am Palast“) das Wahrzeichen, die „Portara“, mächtiges marmornes Westtor des unvollendet gebliebenen Apollon-Tempels aus dem 6. Jh. v. Chr., fertiggestellt wäre er einer der größten Tempel Griechenlands geworden. An der Kaipromenade lockt eine lebhafte Zeile von traditionellen Tavernen, Cafés und Geschäften, und darüber staffeln sich die zur venezianischen Burg hochkletternden Häuser der labyrinthartigen Altstadt. Und mitten im Hafenbecken liegt die „Panagia Myrtidiotissa“ — erster der vielen Sakralbauten von Naxos. Die Portara und die ausgedehnten Marmorfundamente des Apollon-Heiligtums sind über einen Damm zugänglich und bis spät in die Nacht beleuchtet. Am Tage ist bei klarem Wetter die heilige Insel des Gottes, Delos, zu sehen, doch auch ein Spaziergang noch am späten Abend an diesem mythischen Ort ist ein unvergessliches Erlebnis.Die Gassen zum Kastro hinauf sind schmal, tunnelartig, wo sie überwölbt sind, häufig von winkligen Treppenläufen durchbrochen. Unter der Burg schließt sich in nördlicher Richtung das einstige Judenviertel an sowie der Stadtteil Bourgos, der sich an einer Meeresbucht verläuft und in einer aktuellen Ausgrabung antikes Siedlungsgebiet frei legt. Rund 40 orthodoxe Kirchen und Kapellen gibt es hier, von denen die meisten in Privatbesitz sind. Die Metropolitankirche, die „Zoodochos Pigi“, aus dem 18. Jh. ist wegen ihrer schönen Marmor-Ikonostase eine Besichtigung wert.
Von einem Freibeuter erobert
Jeder weiße Winkel erzählt Geschichte, auf ganz schlichte Art, ohne großartige Sehenswürdigkeiten. Die etwa 20 herausragenden Herrenhäuser und Paläste erheben sich einfach, weiß und wenig gegliedert, ein heraldisches Relief hier und da, ein schöner Schlussstein überm Bogen – der Blick erfasst zauberhafte Einzelheiten. Ein venezianischer Freibeuter, Marco Sanudo, eroberte Naxos im Jahr 1207 von den Byzantinern und bescherte der Insel den Sitz des venezianischen Herzogtums über die Kykladen. Das wurde ihre zweite Blütezeit nach der Antike, bis sie 1566 von den Türken eingenommen wurde. Auf der Spitze des Burgberges konzentrieren sich noch heute die katholische Zentren, die Klöster der Ursulinerinnen, der Kapuziner, die Kathedrale, teilweise museale Einrichtungen, wie das bedeutende Archäologische Museum im ehemaligen Jesuitenkloster am Ende einer hohen Treppe und einer langen Gasse. Es enthält nach dem Kykladenmuseum in Athen die zweitgrößte Sammlung an kykladischen Idolen – unschätzbare Kleinodien aus einer ersten abstrakten Kunstperiode der Menschheit. Das Kloster führte einst eine Internatsschule, in der Nikos Kazantzakis zwei Jahre lang lernte, bevor ihn sein Vater, katholische Beeinflussung befürchtend, wieder heimholte nach Kreta. Ganz oben steht äußerst schlicht die einst dreischiffige, seit dem 17. Jh. um zwei Schiffe erweiterte katholische Kathedrale aus dem 13. Jh. Ihr Hauptschmuck sind die Grabplatten der adligen Familien und eine Marienikone des 13. Jh. Bevor wir hier ankommen, treten wir ein in eines der Herrenhäuser, welches das „Venezianische Museum“ enthält, aber nicht nur das: Unterm Gewölbe öffnet sich ein Saal für abendliche Konzerte – bewirtet mit Getränken, genießen wir hier Jazz, Blues, Rembetika und was sonst auf dem Programm steht ...Mit dem Kastro, der Hafenpromenade und den archäologischen Ausgrabungen bildet die Chora das touristische Zentrum der Insel. Hauptanziehungspunkte sind jedoch die schönen Strände, die sich Richtung Süden erstrecken und eine zusammenhängende sand- und dünenreiche Küstenlandschaft bilden, während sonst die gesamte Küste der Insel ziemlich unzugänglich ist und nur einzelne kleinere einladende Buchten hat. Die einzelnen Strandabschnitte der Chora sind nach ihren Kirchsprengeln benannt: Agios Georgios, Agios Prokopios, Agia Anna... Dort überall konzentrieren sich auch die Hotels und Privatunterkünfte. Letzter Dünenstrand ist Plaka, weitere schöne südlich folgende und weniger belebte Badeplätze (Mikri Viglia, Kastraki) sind mit dem Fahrzeug punktuell oder wandernd erreichbar.
Im Streiflicht: 2. Das Binnenland
Vier Ortsnamen braucht es, sich im Zentrum der Insel zu orientieren und die Sehenswürdigkeiten und landschaftlich schönsten Stellen zu finden: Sangri, Filoti, Chalki und Apiranthos. Sie liegen in und um die weite Tragea-Ebene, die die Einheimischen „Livadia“ – „Wiesenland“ nennen. Sie ist, weniger flach als hügelig, vor allem Anbaufläche, bildet aber, umstanden von Höhen, durchzogen von Bachläufen, mit Weinterrassen und Olivenhainen, an die sich kleine Kornfelder lehnen, liebliche Talgründe. Alle vier stattlichen Dörfer, eigentlich fast Städtchen, können Ausgangspunkte erlebnisreicher, wenig anstrengender Wanderungen werden, bei denen alles „stimmt“: sehenswerte Ziele, Aussicht, Rastmöglichkeiten. Naxos war immer schon die wasserreichste und fruchtbarste Insel der Kykladen, im Altertum wurden die besitzenden Landaristokraten „die Fetten“ genannt, die Insel selbst als „die glückseligste“ bezeichnet (Herodot). Die intensive Landwirtschaft gibt dem Inselinnern Autarkie und Eigenleben. In sichtbarer bäuerlicher Tätigkeit zeigt sich eine stolze Unabhängigkeit vom Tourismus, die jedoch wiederum gerade den Feriengästen zugute kommt: Sie erleben ursprünglichstes Griechenland und kommen in den Genuss ganz selbstverständlich integrierter kultureller Errungenschaften. Kaum haben wir die erste Kurve in das 650 m hoch gelegene Bergdorf Apiranthos genommen, lesen wir Hinweisschilder auf venezianische Wohntürme und vier Museen: ein archäologisches (kykladische Keramik und Idole, prähistorische Ritzzeichnungen), ein volkskundliches, geologisches und naturwissenschaftliches. Künstler haben sich hier angesiedelt, eine Fraueninitiative wirkt Webarbeiten. Es lohnt sich, nach dem Schlüssel des nahegelegenen Kirchleins Agia Kyriaki zu fragen, sie hat, nicht sehr gut erhaltene aber seltene Fresken aus dem 9. Jh..
Blitze vom Adler
Hier wie auch in dem großen weißen Dorf Filoti, das sich weiter südlich unter dem höchsten Kykladengipfel, dem 1004 m hohen Zas oder Zia ausbreitet, sind Cafés und Restaurants auf Hangterrassen angelegt. (Schön sitzt es sich bei „Leftheris“ unterhalb der Platia von Apiranthos.) Die als Auffahrt zum Zas bezeichnete Straße endet plötzlich und mündet in einen nicht befahrbaren Weg. Will man nicht zum Gipfel emporsteigen (1 1/2 Stunden), so sollte man doch ein wenig weiterwandern, belohnt durch eine klare Quelle unter Platanen. Neben der Verehrung der Gottheiten Dionysos und Apollon spielte auch der Zeuskult eine große Rolle: Der Name „Zas“, „Zia“ bedeutet nichts anderes als „Zeus“. Er galt als Regenmacher und Beschützer der Herden. In einer Höhle am nordwestlichen Aufstieg (Begehung möglich, aber nicht ungefährlich) soll der Göttervater – so der örtliche Mythos – aufgezogen worden sein, und hier hat ihm ein Adler die Blitze geschenkt.Das Kastro der Chora ist nicht die einzige Burg der Venezianer: Unweit von Sangri liegt, in Ruinen erhalten, die älteste Festung der Insel, das Kastro Apalirou. Es ist die einzige Burg auf den Kykladen, die schon in byzantinischer Zeit bestand. Marco Sanudo musste sie sich gegen die griechische Verteidigung hart erkämpfen.
Ursula Spindler-Niros