Griechenlands Öffentlichkeit ist angesichts eines katastrophalen Eisenbahnunglücks, das sich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (28.2./1.3.) auf der Strecke zwischen Athen und Thessaloniki ereignete, tief erschüttert.
Das Thema ist in jedem Kafenion, in jedem Geschäft, an jeder Tankstelle und bei jedem anderen Gespräch – sei es mit Kollegen oder der Familie – absolut dominierend.
Die Zahl der Todesopfer beläuft sich auf mindestens 57. Weitere Passagiere, die vermutlich auch ums Leben kamen, gelten als vermisst. Die Identifizierung der sterblichen Überreste kann zum Teil nur mit DNA-Tests ermittelt werden. Sechs Personen werden auf Intensivstationen in Krankenhäusern behandelt. Der Unglückszug war mit einer Geschwindigkeit von bis zu 160 km/h mit einem Güterzug frontal zusammengestoßen, der ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit fuhr. Nach dem Aufprall war in den vorderen Waggons des IC ein verheerendes Feuer ausgebrochen, es entwickelten sich Temperaturen von weit über 1.000 Grad Celsius, teilte die Feuerwehr mit. Es handelt sich um das größte Eisenbahnunglück in der Geschichte Griechenlands.
Mahnungen systematisch ignoriert
Über das Land wurde eine dreitägige Staatstrauer verhängt, die Flaggen wurden auf Halbmast gesetzt, öffentliche Feierlichkeiten wurden abgesagt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge ist die Ursache für das Unglück menschliches Versagen. Ein Stationsvorsteher hatte den Zug versehentlich auf ein Gleis umgeleitet, das für den Gegenverkehr bestimmt ist. Dem 59-jährigen Mann, der bisherigen Ermittlungen zufolge noch sehr unerfahren auf seinem Posten war, droht eine lebenslange Haftstrafe. Die Öffentlichkeit fragt sich allerdings, warum ein elektronisches Leitsystem, dessen Basis auf der aufwändig modernisierten Strecke offenbar installiert wurde, nie in Betrieb ging. Dadurch hätte der Fehler des Beamten korrigiert bzw. die Katastrophe vermieden werden können. Eisenbahner weisen außerdem darauf hin, dass sich diese Tragödie schon seit langem abgezeichnet habe. Mahnungen, die man an die Verantwortlichen des Unternehmens und an die Regierung gesandt habe, seien systematisch ignoriert worden. Zuletzt hatte die Bahngewerkschaft im Februar noch einmal schriftlich auf die Probleme hingewiesen.
Kritiker sprechen davon, dass die Sicherheitsmängel eine Folge der rigorosen Privatisierungspolitik seien. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise war ein Teil des Zugbetriebes der Griechischen Bahn (OSE) im Jahre 2017 für 45 Millionen Euro an die Italienische Staatseisenbahnen (Ferrovie dello Stato Italiane) verpachtet worden. Der Betrieb der Strecken hingegen blieb in griechischer Hand.
Bestrafung ohne Wenn und Aber
Der Staatsanwalt des griechischen Höchstgerichtes fordert die juristische Verfolgung der Schuldigen ohne Wenn und Aber: „egal, wer sie sind; egal, zu wem sie gehören; egal, woher sie kommen“. Nun, so das Credo, sei „die Zeit für die Justiz gekommen.“
Auch die EU forderte eine lückenlose Aufklärung des Falls. Ein Sprecher sagte, dass Griechenland auf die Unterstützung durch die Gemeinschaft der Europäischen Bahnen zählen könne – falls das in Athen für sinnvoll erachtet werden sollte.
Politische Konsequenzen
Der bisherige Verkehrsminister Kostas A. Karamanlis – ein Neffe des Gründers der Nea Dimokratia (ND), mehrfachen Premierministers und Ex-Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis (1907-1998) – musste kurz nach dem Desaster die Konsequenzen ziehen und trat zurück. Seinen Posten übernahm Jorgos Gerapetritis, der gleichzeitig weiterhin als Staatsminister fungiert. Seitens der konservativen ND-Regierung wird unterstrichen, dass man alle Verantwortlichen für das Bahnunglück zur Rechenschaft ziehen werde. Eine Expertenkommission soll nun die konkreten Ursachen unter die Lupe nehmen. Parallel dazu sollen vor allem Sicherheitslücken bei der Bahn geschlossen werden. Premierminister Kyriakos Mitsotakis hatte versichert, dass so etwas nicht wieder vorkommen werde. – Aus politischer Sicht sind die möglichen Folgen des Zugunglücks schwer einzuschätzen: In Griechenland stehen in Kürze Parlamentswahlen an. Es bleibt abzuwarten, ob das Wählerverhalten dadurch beeinflusst wird; bisher liegt die ND mit etwa 6,5 Prozentpunkten vor der Opposition.
Folgen der Privatisierungspolitik?
Der Unglücksort war noch am Mittwoch von der Staatsführung, darunter Staatspräsidentin Katarina Sakellaropoulou und Ministerpräsident Mitsotakis in Augenschein genommen worden, die ihre Trauer zum Ausdruck brachten. Auch Vertreter der Oppositionsparteien waren zugegen. Alexis Tsipras, Vorsitzender des Bündnisses der Radikalen Linken (SYRIZA) konstatierte, dass man alles tun müsse, um Verantwortungen zuzuweisen, damit sich solch eine Tragödie nicht wiederholen könne. Vorwürfe, dass SYRIZA theoretisch auch einen Teil der Verantwortung trage, überging der Linkspolitiker geflissentlich. Von 2015 bis 2019 war das Linksbündnis in der Regierungsverantwortung, die massive Privatisierungspolitik hatte damals – vor allem auf Druck der internationalen Geldgeber – ihren Anfang genommen.
Jan Hübel