„Hochburg der Korruption"
Regierungschef Samaras hatte die Entscheidung, ERT zu schließen, im
Alleingang getroffen. Angekündigt worden war dieser Plan von
Regierungssprecher Simos Kedikoglou, einige Stunden später war das
komplette Programm nicht mehr zu empfangen. Die Mitarbeiter der ERT
traf die Schließung wie ein Blitz aus heiterem Himmel, abgesehen
davon, dass die Pläne der Regierung, die Sendeanstalt bis Ende des
Jahres zu reformieren, allgemein bekannt waren.
Die beiden Koalitionspartner PASOK und DIMAR gaben sich völlig
überrascht. Venizelos und Kouvelis zeigten sich daraufhin in der
Öffentlichkeit entschlossen, die Schließung zu verhindern. Samaras
wiederum beharrte auf seiner Entscheidung. ERT dürfe in der alten
Form nicht wieder eröffnet werden, das Unternehmen sei nicht zu
reformieren. Mehrfach bezeichnete er die staatliche Sendeanstalt
als „Hochburg der Korruption". Das neue Modell NERIT müsse auf ganz
neuer Basis, mit weniger Personal und mehr Transparenz arbeiten.
Doch genau das bezweifeln die Schließungsgegner. Sie fürchten, dass
das neue Personal von NERIT gänzlich nach politischen Maßstäben
ausgesucht werden könnte. Auch der Kompromissvorschlag von Samaras,
eine vorübergehende ERT zu öffnen, bis NERIT voll einsatzfähig ist,
stieß auf Widerstand seitens der Regierungspartner und der
Angestellten des Unternehmens.
Kein Konsens
Bereits in der vorigen Woche machten Gerüchte über die Eventualität
von vorverlegten Parlamentswahlen die Runde. Beobachter sprechen
von der schwersten Krise der Regierungskoalition, seit sie nach den
Wahlen vor einem Jahr gebildet wurde. Ministerpräsident Samaras
sagte dazu am Wochenende: „Einige versuchen, uns in einem Dilemma
von vorverlegten Parlamentswahlen einzukapseln." Die tatsächliche
Frage sei seiner Meinung nach, wer den Stau der Reformen
verantworten wolle.
In einem Interview bezeichnete er all diejenigen, die sich dafür
einsetzen, ERT wieder zu eröffnen, als „Heuchler". Seitens der
PASOK war zu hören, dass die Sozialisten keine vorverlegten
Parlamentswahlen, sondern politische Stabilität erzielen wollen.
DIMAR hebt immer wieder hervor, Ministerpräsident Samaras müsse
endlich „begreifen", dass er eine Dreiparteienregierung regiere.
Wenn er aber seine Koalitionspartner mit „Worten und Taten" ins
Abseits dränge, dann sei der Bestand der Regierung in Gefahr.
Nun bleibt abzuwarten, ob die drei Regierungspartner bei ihren
Gesprächen heute Abend einen politischen Kompromiss finden. Zudem
wartet man auf eine Entscheidung des Staatsrates. Er soll am
Dienstag ein Urteil darüber fällen, ob ERT doch wieder auf Sendung
gehen darf. Im Extremfall könnten PASOK und DIMAR ihr Vertrauen
gegenüber Samaras zurückziehen. Dann könnte Samaras theoretisch
zurücktreten, unter einem neuen Ministerpräsidenten könnte
theoretisch eine neue Koalition gebildet werden. Allerdings könnte
Samaras auch für eine kurze Zeit mit einer Minderheitsregierung
weiter regieren. In einem solchen Fall müsste er sich eventuell auf
andere Konservative bzw. auch unabhängige Parlamentarier
stützen.
Solidaritätsproteste für staatlichen Rundfunk- und Fernsehen ERT
Die Schließung der ERT hat in Griechenland zu zahlreichen Protestaktionen geführt. Daran beteiligen sich überwiegend linke Oppositionsparteien. Es finden zudem auch Solidaritätskonzerte statt (siehe Foto).
Die Schließung des staatlichen Rundfunks- und Fernsehens ERT vor
sieben Tagen bringt weiterhin eine große Protestwelle mit sich. Zum
sechsten Tag in Folge streikt in Griechenland ein Großteil der
Journalisten. Damit wollen sie Solidarität mit ihren 2.656
entlassenen Kollegen von ERT zeigen. Diejenigen Journalisten, die
noch arbeiten, beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Thema
der ERT. Ein Live-Programm wird weiterhin aus dem von Mitarbeitern
besetzten Hauptgebäude der ERT im Athener Vorort Agia Paraskevi
ausgestrahlt. Übertragen wird es auf der Internetseite der
Europäischen Rundfunkunion EBU (www.ebu.ch).
„Schlag gegen die Demokratie"
Was
die plötzliche „Gruppenentlassung" der ERT-Angestellten angeht,
spricht die größte Oppositionspartei im griechischen Parlament, das
Bündnis der Radikalen Linken (SYRIZA), von der Umgehung der
griechischen und der europäischen Gesetzgebung. Eine entsprechende
Anfrage haben drei Parlamentarier des SYRIZA an Finanzminister
Jannis Stournaras, an Ministerpräsidenten Antonis Samaras und an
Regierungssprecher Simos Kedikoglou gerichtet. Die Schließung von
ERT würde „die griechische Verfassung verletzen, das
Informationsrecht der Bürger angreifen und Griechen, die in
abgelegenen Regionen oder im Ausland leben, ausgrenzen", heißt es
darin. Zudem sei die Schließung der ERT „ein Schlag gegen unsere
Kultur und Demokratie".
Demonstrationen
Für 20.00 Uhr hat
SYRIZA am heutigen Montagabend weiterhin eine Protestaktion vor dem
Athener Parlament am Syntagma-Platz organisiert. Zur Beteiligung
werden alle Bürger aufgerufen, „die für die Demokratie und die
Aufhebung der Spar- und Reformpolitik (Memorandum) kämpfen". Heute
vor einem Jahr haben in Griechenland die Parlamentswahlen
stattgefunden. Daraus ist die gegenwärtige Koalitionsregierung aus
Konservativen (ND), Sozialisten (PASOK) und Linken (DIMAR)
hervorgegangen.
Unterdessen hat die der kommunistischen Partei nahestehende
Gewerkschaft PAME ebenfalls heute Abend zu einer Protestaktion am
zentralen Platz des Athener Vorortes Agia Paraskevi aufgerufen.
Ganz in der Nähe befindet sich das Gebäude der ERT-Zentrale, das
nach wie vor von den Mitarbeitern besetzt gehalten wird, um
weiterhin per Internet senden zu können. Diese Demonstration soll
bereits um 19.00 Uhr beginnen. In einer Ankündigung heißt es u. a.
„Jetzt ist die Zeit der Organisation des Kampfes gekommen".
Am Sonntagabend hat auch in der zweitgrößten Stadt des Landes,
Thessaloniki, ein Protestmarsch gegen die Schließung von ERT
stattgefunden. Ähnliche Protestaktionen finden auch in anderen
Landesteilen statt. Vor der Athener ERT-Zentrale werden auch immer
wieder Solidaritätskonzerte gegeben. Ein Großteil der griechischen
Künstler hat Solidarität mit den ehemaligen ERT-Angestellten
bekundet.
(Text: Elisa Hübel, Foto: Eurokinissi)