Europa muss einen Plan B entwickeln, für den Fall, dass die besorgniserregende Situation in Syrien eine erneute Krise hinsichtlich der Fluchtbewegungen verursacht. Mit dieser Forderung ging der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis am Donnerstag (17.10.) bei seinem ersten EU-Ratstreffen als Regierungschef an die Öffentlichkeit. Bei seiner Ankunft am Tagungsort in Brüssel betonte er, dass sich Griechenland und Europa beim Thema der steigenden Migrationszahlen „nicht von der Türkei erpressen lassen“ könne. Die EU müsse darüber hinaus mehr „Solidarität mit Griechenland“ zeigen und versuchen, mit der Türkei ein neues Abkommen auszuhandeln.
Mit den Äußerungen zu einem „Plan B“ deutet Mitsotakis an, dass man auch dann eine Lösung für Migrationsfragen bereithalten müsse, wenn der sogenannte EU-Türkei-Deal aus dem Jahre 2018 an den aktuellen Spannungen scheitern sollte. In einem Interview im Podcast des EU-Polit-Magazins „Politico“ erklärte der Premier, dass man „in einem Kontext von Drohungen und Erpressungen“ keine Diskussionen mit der Türkei führen könne.
Anker in unruhiger Region
Ein erstes Kommuniqué des EU-Gipfels von dieser Woche bestätigte in zwei Punkten erneut, was die EU-Außenministerkonferenz wenige Tage zuvor schon beschlossen hatte: Man verurteilte das provokante Verhalten der Türkei gegenüber den Bohraktivitäten der Republik Zypern nach fossilen Brennstoffen in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ bzw. AOZ) sowie auch die türkische Militäraktion in Nordsyrien. Gleichzeitig kündigte man an, gegen Ankara Sanktionen zu verhängen.
Bezüglich der Beitrittsbemühungen von Nord-Mazedonien und Albanien zur EU äußerte sich Mitsotakis wohlwollend. Hellas begreife sich als „Stütze und Anker der Stabilität in einer sehr unruhigen Region“. Sofern alle Richtlinien und Verpflichtungen von den Kandidaten erfüllt würden, unterstütze Griechenland den Weg der nördlichen Nachbarn. Wie bekannt, blockierte Frankreich in den letzten Tagen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen dieser beiden Balkanländer, weil es u. a. Zweifel an deren demokratischen Strukturen hegt.
Diese Entscheidung bestätigte sich am Freitagnachmittag (18.10.) bei einer Pressekonferenz. Der Europäische Rat werde sich im Mai 2020 beim „State of Europe“-Forum in Zagreb erneut mit Beitrittsfrage für Albanien du Nordmazedonien auseinandersetzen müssen, erklärte Ratspräsident Donald Tusk. Er betonte ausdrücklich, dass das Scheitern des Verhandlungsbeginns nicht der beiden potenziellen EU-Kandidaten sei: „Der Kommissionsbericht stellt klar, dass beide Länder getan haben, was man von ihnen verlangt hat. … Leider waren manche unserer Mitgliedsländer noch nicht bereit.“ Jean-Claude Juncker, Präsident der europäischen Kommission, nannte die Entscheidung gegen Verhandlungen einen „historischen Fehler“.
Tsipras fordert mutige Entscheidungen
Gleichzeitig mit Mitsotakis hielt sich auch der Vorsitzende des Bündnisses der Radikalen Linken (SYRIZA) und Ex-Premier Alexis Tsipras in Brüssel auf. Am Donnerstag sprach er vor dem Forum der „Friends of Europe“, einem Brüsseler think-tank für EU-Politik. In seinen Statements drängte er darauf, dass die gegen die Türkei geplanten Sanktionen schnellstmöglich umgesetzt werden müssten. Tsipras zufolge kranke die EU daran, dass man zwar Lösungsansätze für akute Probleme entwickele, diese aber kaum umgesetzt würden, weil man keine gemeinsame, klare Haltung findet. Als Beispiele für den mangelnden Konsens nannte er die EU-Asylpolitik. Sie sei an der fehlenden Bereitschaft der Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien) gescheitert, Geflüchtete aufzunehmen. Darüber hinaus forderte er in Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien Fortschritte. Der nördliche Nachbar habe sich, so Tsipras, den Beitritt verdient, und Europa habe, auch in diesem Punkt, „mutigere Entscheidungen“ nötig.
Die griechische Präsenz in der belgischen Hauptstadt ergänzte Fofi Gennimata, die Vorsitzende der KINAL-Partei („Bewegung für den Wandel“). Bei einem Treffen der Europäischen Sozialisten (PES) sprach sie sich für eine harte Linie gegenüber der Türkei aus: „Es ist Zeit, deutlich ‚Stop!‘ zu türkischen Provokationen zu sagen“, betonte die KINAL-Chefin. Sie brachte außerdem den Vorschlag ein, für die aktuellen Entwicklungen im östlichen Mittelmeerraum einen EU-Sonderbeauftragten zu ernennen. Ähnlich wie Mitsotakis regte sie eine Überarbeitung des EU-Abkommens mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage sowie eine neue europäische Asylpolitik an. Ziel müsse es dabei u. a. sein, Griechenland und speziell die griechischen Inseln zu entlasten.
Von den Inseln aufs Festland
Die Flüchtlingsfrage spielt unterdessen in der innenpolitischen Szene Griechenlands nach wie vor eine dominante Rolle. Der zuständige Bürgerschutzminister Michailis Chryssochoidis kündigte bei einem Treffen von Parlamentsabgeordneten der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia am Donnerstag (17.10.) an, bis zum Ende des Jahres mindestens 20.000 Asylsuchende, vorerst Familien, von den griechischen Inseln aufs Festland zu übersiedeln. Als erste Maßnahme sollen Informationen der staatlichen Nachrichtenagentur ANA-MPA zufolge am Montag (21.10.) 1.000 Menschen von Samos weggebracht werden. Auf dieser ostägäischen Insel war es im Laufe der vergangenen Tage wiederholt zu Ausschreitungen zwischen einzelnen Bewohnern des dortigen überfüllten Flüchtlingscamps gekommen. Chryssochoidis kündigte zudem an, dass die Geflüchteten gleichmäßig auf die griechischen Regionen verteilt werden sollen. Im Rahmen des Treffens stellte Chryssochoidis seinen Parteikollegen auch seinen Entwurf für ein neues Asylgesetz vor. (Griechenland Zeitung / Jonas Rogge)