Der Ölbaum hat Zeit, er lässt sich nicht drängen: Gern macht er Windungen und Knoten, wo andere Gewächse kerzengerade aufschießen. Wenn bei seinen Genossen das Früchtetragen vor Altersschwäche schon wieder nachlässt, beginnt der Olivenbaum erst so richtig, Leben zu entfalten. Bis zu zwei dutzend Jahre können verstreichen, bis ein neuer Setzling zum ersten Mal nennenswert ertragfähig wird, und nur in jedem zweiten Jahr ist mit üppiger Ernte zu rechnen.
Im Westen Kretas, um die Dörfer Voúves, Astrikas und Delianá herum, stehen die uns bisher bekannten ältesten Olivenbäume Europas - 2000, 3000 Jahre sind sie alt … wer weiß. Noch immer bringen diese immergrünen, wundersamen Bollwerke der Natur Früchte zur Reife und trotzen damit jeder menschlichen Vergänglichkeit. Und doch kann in jedem knorrigen Stamm, den einzelnen Windungen, den zahlreichen Baumhöhlen und dem mächtigen Wurzelwerk durchaus Menschliches erkannt werden. Ölbäume regen immer wieder die Phantasie an. Fast scheint es, als vermögen diese hölzernen Methusalemgestalten die gesamte Menschheitsgeschichte zu erzählen - aber nur demjenigen, der auch bereit ist, sie zu hören. Ob majestätisch solitär oder in atmosphärisch dichten Hainen: Olivenbäume laden zum Verweilen ein. An den Stamm gelehnt spürt man die Lebenskraft dieses Baumes, empfindet den Schatten des dichten Blattwerks als ein kleines Geschenk der Götter und findet zu sich selbst. Jetzt verwandelt sich das Geschrei der Zikaden ganz unmerklich in einen Gesang, untermalt vom Rauschen des Windes in den Zweigen. Wie ein wogendes Meer tanzen die silbriggrünen Blätter und Zweige, und die Seele kommt zur ersehnten Ruhe. (Text: Wassilis Dornakis)
Über den Olivenbaum, ein Geschenk der Göttin Athene, erzählt das Buch „Olivenbäume – Beobachter der Stille“, das bereits in zweiter, überarbeiteter Auflage erhältlich ist. Schon vor Jahrtausenden wurde ihm gehuldigt, und bis heute schwärmen Liebhaber des Südens für diesen „Charakterbaum“ des Mittelmeeres. Er ist ein Klassiker. Er ist Symbol, Inspiration und Mythos – Speise, Pflege- und Heilmittel, Licht. Die rund 170 Texte in diesem Band umfassen Kurzgeschichten, Märchen, Sachtexte, Lyrik, Kochrezepte, Volksweisheiten, Lieder, Porträts und Träume … Und die 100 Aquarelle spüren der Seele des Olivenbaums nach. Beim Blättern, Schmökern und Innehalten zwischen Wort und Bild wird das „ewige, sanfte, fruchtbare Rauschen“ der Ölzweige hörbar.