Das Meer zwischen der griechischen Insel Lesvos und der West-Türkei ist heute Morgen ruhig, wirkt regelrecht friedlich. Die Küste der Türkei ist zu sehen, sie ist nur 9 km entfernt.
Eine große Segelyacht ohne Segel kommt in Sicht, wird von der Sonne angestrahlt und von 2 Booten begleitet. Ich stehe auf der Mole im Hafen des schönen Ortes Molivos, auch Mithimna genannt, ganz im Norden der Insel.
Seit 7 Uhr habe ich als Volontärin bei der griechischen Hilfsorganisation STARFISH Dienst im Hafen (www.asterias-starfish.org).
Diese sehr gut aufgestelle, griechische Hilfsorganisation wurde Mitte letzten Jahres von Einheimischen in Molivos gegründet. Geburtsort und Herzstück ist die Taverne „Captains Table“ am Hafen. Die Jahre zuvor waren die Bewohner mit den zigtausenden von ankommenden Flüchtlingen fast ausschließlich allein auf sich gestellt. Welch eine große, vorbildliche Leistung.
Obwohl keine Saison ist, haben die meisten Tavernen, Geschäfte, einige Hotels geöffnet. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer aus der ganzen Welt tragen dazu bei, die Wintersaison zu beleben. Die Leihautofirmen profitieren von der Anmietung von Kleinbussen der Hilfsorganisationen. Ein kleiner Ausgleich für die Einbußen durch den Rückgang der Touristen auf Grund der Flüchtlingssituation.
Aber zurück zum Hafen:
Ein Flüchtlingsboot mit 52 Leuten an Bord ist gemeldet, es kommt schon in Sicht. „Greenpeace hat gemeldet: Alle Ankommenden ok“, ruft Laith, unser Schichtleiter. Wir wissen, was wir zu tun haben: Kartons mit Wasser, mit trockener Kleidung und Schuhen nach Sorten und Größen sortiert, Decken, Babynahrung, Windeln, heißen Tee, Sandwiches in die Nähe der Anlegestelle zu bringen.
Das Boot wird festgemacht, die Leute im Hafen klatschen zur Begrüßung in die Hände, heißen die Ankommenden willkommen. „Wir haben es heil übers Meer geschafft, sind in Sicherheit“, steht in die Gesichter der Menschen aus Afghanistan, aus Pakistan und aus Syrien geschrieben. Zuerst sehe ich ausschließlich Männer, die schon auf der Fahrt im Boot standen.
Wie sonst können 52 Menschen auf einer Segelyacht Platz finden, die für maximal 16 Personen zugelassen ist? Aus der Mitte des Bootes kommen schüchtern die Frauen und Kinder von Bord. Mir fällt eine Mutter auf mit einem Kind auf ihrem Rücken, einem Baby vor ihren Bauch gebunden und an der Hand hält sie einen etwas größeren Jungen. Ich gehe langsam auf sie zu, verneige mich leicht und begrüße sie in ihrer Sprache: „Marhaba“. Die Frau kommt aus Afghanistan. Ihr Englisch sprechender Ehemann, mit zwei schweren Koffern, beladen mit ihrem letzten Hab und Gut, erzählt mir später, dass er mit seiner Familie von Kabul bis an die Küste im Westen der Türkei zu Fuß gelaufen sei, über Berge mit Schnee ...
Das kleine Lächeln um Fais Mund ermuntert mich, sie an die Hand zu nehmen und in ein ruhiges Fleckchen mit einer Bank und einem Tisch zu geleiten. Schnell besorge ich Windeln, Kindernahrung, Milch, Wasser, trockene Kleidung, warme Socken und Schuhe, Decken fürs Baby und Kleinkind. Der Tisch wird zum Wickeltisch. In Windeseile wechselt die Mutter Wäsche und Windeln der Kinds, packt sie warm ein. Viele Mütter können aufgrund all der Strapazen unterwegs nicht mehr stillen. Die Babys sind das Trinken aus der Flasche noch nicht gewöhnt, werden nicht satt, sind unzufrieden.
Der etwas ältere Sohn tobt mit anderen Kindern im ausrangierten Fischerbeiboot.
„Sukran, sukran – danke, danke“ und immer wieder „Sukran“
Etwas später: „Ma ismuka – wie heißt du?“, fragt Fais mich schüchtern. Wir kommen uns immer näher, umarmen uns lange sehr herzlich, weinen vor Rührung. Sie fragt mich: „Wann können wir wieder nach Hause?“
Nachdem ich Fais heißen Tee und Toast gebracht habe, fühle ich mich so richtig gut, so RICHTIG hier an diesem Platz im Hafen von Molivos zusammen mit den dankbaren kleinen und großen Flüchtlingen, zusammen mit der liebevollen Helper-Family. Endlich kann ich ganz persönlich meine Gastfreundschaft überbringen, etwas von meinem guten Leben abgeben und damit auch mir selbst etwas Gutes tun. Grenzen und Asylfragen habe ich weder im Kopf noch im Herzen, mein Gegenüber wohl auch nicht.
Die Ankommenden werden nach einer Verschnaufpause mit Bussen ca. 40 km nach Moria, in die Nähe von Mytilini, gebracht. Ein ehemaliges, massiv umzäuntes Militärcamp wird als Registrierungszentrum und Hotspot genutzt. Ausschließlich syrische Menschen leben vorrübergehend in diesem Camp. Die Flüchtlinge anderer Nationen müssen sich mit noch dürftigerern Zuständen zufrieden geben.
Trotzdem ist die Stimmung im Camp nicht schlecht. Die jungen, recht fröhlichen Männer trocknen ihre Sachen über offenem Feuer in einer Tonne. Improvisieren hätten sie gelernt, erklären sie mir.
Wunderbar, dass ein geheiztes Kinderzelt zur Verfügung steht. Die Kleinen basteln, malen, hören Musik, schließen Kontakte untereinander. Von den gemalten Bildern hat mir der Leiter einige überlassen. Zusammen mit guten Wünschen, gemalt auf Papier und Karten, die den von überall her gesendeten Spendenpaketen beilagen, haben wir eine bunte Collage gearbeitet. Sie hängt jetzt gut sichtbar im Empfangszelt. Mit den Größeren entstanden Friedenslichter!
STARFISH ist u. a. stark engagiert in der Beschaffung und Verteilung von Spendenkleidung, Spielzeug, Schlafsäcken, Decken ...
Die ganz überwiegend gepflegten, zweckmäßigen Artikel werden sorgfältig sortiert, die nasse Kleidung von der Überfahrt gereinigt, Schuhe getrocknet.
Um alle übernommenen Aufgaben zu bewältigen, 24 Stunden ansprechbar und einsatzbereit zu sein, arbeiten alle Volontäre in drei Schichten. Ein zuverlässiger Fahrdienst sorgt für den Transport zu den verschiedenen Einsatzorten. Mindestens einmal in der Woche treffen sich alle, um die 50 Mitarbeiter und die kompetente, freundliche Leitung, zur Informations-, Austausch- und Planungsversammlung. Sicherlich ist das mit ein Grund, dass zwischen den „Starfishen“ ein offenes, harmonisches „Wir ziehen alle an einem Strang-Gefühl“ entsteht. Spontane Treffs, fröhliche Partys mit Einheimischen, anderen NGOs, gern auch mit Flüchtlingen, Tanz, eigene Musik entwerfen, singen, Yoga schaffen den Ausgleich zu den physischen und psychischen Anstrengungen.
Selbst Ai WeiWei besuchte uns. Er plant ein Mahnmal auf Lesvos.
Hinweisen möchte ich noch auf die unglaublich beeindruckende Bilderausstellung zum Thema „Flüchtlinge" in Mytilini.
Die Ausstellung besteht aus ca. 50 erstklassigen Fotografien, die pro Exemplar für 20 Euro verkauft werden. Der Erlös kommt zu 100 % der Flüchtlingshilfe zu gute. Vergrößert ist die Emailadresse lesbar.
Zum Schluss noch ein Gedanke zur Gastfreundschaft für die aus großer Not geflohenen Menschen.
Als wir zwei Norddeutschen vor vielen Jahren Griechenland zu unserer Gastheimat erkoren hatten, lernten wir offene Gastfreund- und Hilfsbereitschaft durch unsere Nachbarn und Nachbarinnen im Dorf kennen. Und nicht nur dort. Wir erfahren das Gefühl, willkommen zu sein, täglich.
Nun überlege ich, unsere Gastfreundschaft weiter auszuweiten. Ankommende Flüchtlinge können nach ihrer Registrierung sechs Monate im Land bleiben. Wie wäre es mit dem Angebot, den gestressten Familien vor ihrer anstrengenden Weiterreise gen Norden eine erholsame Pause bei uns und in unserem griechischem Umfeld anzubieten? Sie könnten sich in ein europäisches Land einfühlen, konkret im Süden der Peloponnes, im Landkreis Messenien, ihre Erlebnisse sacken lassen, sich mit unserer Unterstützung um ihre Gesundheit kümmern, etwas Englisch oder auch Deutsch lernen, ganz einfach mit uns leben. Wir könnten von ihnen lernen und uns wechselseitig den unterschiedlichen Lebensweisen, Kulturen annähern, einfach als gleichberechtigte, zugewandte Menschen mit einander leben, gern auch fröhlich sein ;-*)
Ob aus der vagen Idee ein Projekt werden könnte?
Text und Fotos: Ingrid Spieker