Ein Besuch auf der Insel Serifos, Teil 1
Das karge Serifos gehört zu den Kykladen und ist knappe 75 Quadratkilometer groß. Das bildschöne Eiland eignet sich bestens zum Wandern und Schwimmen. Es ist ein Ort zum Entspannen und Herumbummeln, aber auch eine Insel, die alle Probleme der kleinen griechischen Inseln gebündelt vorführt.
Serifos erkennen wir schon von weitem, von der Fähre aus. Die strahlend weiße Chora oben auf dem spitzen, steilen Hügel zieht sich die Bergkuppe herunter, so wie Zuckerguss von einem Kuchen tropft, also unverkennbar. Einfahrt in die lange Hafenbucht nach Livadi. Beim letzten Besuch waren wir im Winter hier, da waren fast alle Lokale geschlossen. Ich staune über die Menge der Tavernen und Bars am Hafen. Die Promenade ist frisch betoniert, die Anlagen für die Segler perfektioniert. Etliche Yachten liegen vor Anker, aber auch Fischerboote.
Pittoreske Fotomotive
Der Bus nach Chora fährt vorbei, wir winken und steigen ein. So kommen wir statt zu Fuß über den steilen Treppenweg bequem über viele Kehren nach oben, eine atemberaubende Fahrt. Die weißen Häuser kleben förmlich an den Felsen. Sie schachteln sich übereinander, so dass wir oft nicht wissen, ob die Gasse weiter führt oder nicht. Nach dem Aufstieg zur höchsten Kapelle und den tollen Blicken auf die Bucht, die trockenen Berge rundum, den schmalen Gassen, Treppen, den schönen Winkeln, pittoresken Fotomotiven, beschleicht uns Trauer. Dieser Ort lebt nicht mehr! Viele Häuser sind verfallen. Da ein Haus, das andere stützt, ist es eine Frage der Zeit, dass hier alles zusammenrutscht. Etliche Häuser sind zwar geweißelt, aber dennoch sehen wir, dass weitgehend Leerstand herrscht. Wer würde auch heute hier in den Einraum-Häusern wohnen wollen? Einige Häuschen sind als Feriendomizil perfekt restauriert, einige dienen im Sommer als Tavernen oder Bars, aber insgesamt bestätigt sich unser Eindruck von unserm letzten Besuch: eine Art Museumsdorf. Nur wenige Menschen leben hier dauerhaft, offiziell 346, aber nur in den unteren, weniger steilen Partien des Ortes, und das nicht ganzjährig.
Pittoreske Gassen in blau-weiß
Kaffee im kleinen Briki
Am Ende unserer Rundtour durch die Vergangenheit landen wir auf der Platia, dem Platz vor der weiß-blauen Kirche und dem klassizistischen Rathaus, das vor sich hin bröckelt. Mehrere Häuser sind kulissenhaft weiß gestrichen und mit allerlei Gedöns dekoriert, nicht hässlich, aber auch nicht mehr typisch-lebendig. Eine Theaterszene. Hinter diesen Fassaden lebt keiner mehr. Die Wirtin aus Kreta hat drei übereck liegende Häuser zu einem einzigen Lokal zusammengefasst. Sie serviert den Kaffee im traditionellen Briki und den Ouzo mit kleinen leckeren Häppchen. Wir sitzen gemütlich auf einem Divan, so ein Modell, auf dem man früher geschlafen hat. Wir konsumieren und genießen. Zwei ältere Frauen kommen über den Platz, schlank, schwarz gekleidet in zusammen gewürfelten, ihnen nicht passenden, uralten Klamotten, ein Kopftuch um die Köpfe gebunden gegen den Wind. An den Füßen dicke abgetragene Schuhe. Armut schlägt uns entgegen. Hier leben nur entweder ganz arme oder ziemlich Reiche im Sommer, was für ein absurder Gegensatz. Von der schönen Aussicht kann man nicht leben. Wie soll ein alter Mensch die vielen Treppen und unebenen Wege laufen? Es gibt nur wenige Läden oben. Was geschieht, wenn sie gar nicht mehr laufen können? Uns ist klar, dass es keinen Ausweg gibt aus der musealen Situation. Traurig, bei all der Schönheit des Ortes. Ein Relikt, das nicht mehr in unsere Zeit passt, ein Fossil, versteinerte Vergangenheit.
Hübsche Buchten und Strände
Am Ende der Bucht von Livadi geht es steil hoch auf schmalsten Pisten. Von der Höhe haben wir einen Blick auf Chora, das ja auf beiden Seiten des Berges weiß zu Tale fließt. Auf der anderen Seite schauen wir runter auf hübsche Buchten mit kleinen Stränden, Agios Sostis und Psili Amos unterhalb des Regenwasserrückhaltebeckens. Unterwegs treffen wir auf etliche hübsche Neubauten, halb in Bruchsteinmauerwerk, halb mit weiß getünchten glatten Mauern, alle sehr geschmackvoll und geschickt in die Landschaft gesetzt. Wir wollen nicht meckern, dass neu dazu gebaut wird. Es kommt darauf an, was und wie und wo. Von einer Verschandelung der Landschaft kann man wirklich nicht sprechen, eine Zersiedelung stellt es aber doch dar. Man baut lieber neu statt alte Substanz zu erhalten. Der Verfall der alten Dörfer hat drastisch zugenommen, die Abwanderung ist hier nicht gestoppt worden.
Aus der Vogelperspektive der Blick hinunter zum Hafen
Wie anders war das Landschaftsbild im Winter, wo samtig mildes Grün alle Berge überzog und ich Mengen von Blumen fotografiert habe. Im September ist die Kargheit der Landschaft berührend, die vertrockneten Hänge, wo nicht mal eine Ziege mehr etwas finden könnte. Ungezählte weiße Kapellchen stehen verstreut in den Bergen, für jede Familie mindestens eine. Die grünen Flecken unten in den Niederungen, wo im Winter das Wasser von den Bergen sich in temporären Flüssen sammelt, wo einige Bäume wachsen, auch etwas Wein, zeigen Spuren landwirtschaftlicher Nutzung. Mehr als Subsistenzwirtschaft kann das nicht sein. Keine Chance für junge Leute außer im Tourismus, und der findet hier nur in wenigen Monaten statt. Diese Insel ist arm an Einkommensmöglichkeiten, aber reich an Schönheit und Anmut.
Die schmale Straße führt uns zu atemberaubenden Ausblicken auf kleine Buchten und steinige Hänge. Wir haben das Gefühl, aus einem Flugzeug herabzuschauen.
Kurz vor dem Kloster Taxiarchis halten wir an der Agios Minas-Kapelle, um einen Blick von weitem auf die weißen Mauern des Wehrklosters zu fotografieren, das da in absoluter Einsamkeit in der Ödnis liegt. Die Kapelle ist abgeschlossen, der Schlüssel steckt. Übrigens die erste Kapelle auf dieser Reise, die zugänglich ist. Der Raub von Ikonen hat wohl überhand genommen, das Vertrauen ist hin, also besser abschließen.
Wehrhaftes Kloster
Taxiarchis liegt weiß hoch oben in the middle of nowhere. Hohe weiße Mauern mit Schießscharten wie eine Burg umgeben eine Kirche, nur der Turm guckt oben hinaus. Eine schmale Treppe, neuerdings mit einem Geländer gesichert, führt zu einer niedrigen, blau gestrichenen Tür mit einem großen weißen Kreuz darauf, ziemlich weit oben der einzige Zugang zum Burginneren. Auch wer nicht groß gewachsen ist, muss sich bücken, um durch das hölzerne Tor zu kommen. Die dicke Bohle wird durch einen starken Knüppel am Zufallen gehindert. Diese Tür muss Jahrhunderte alt sein! Immer wieder geflickt, gesichert durch Ketten und aufgenagelte Querbalken, immer noch funktionstüchtig, nicht nur gegen die Piraten, die dem früher reichen Kloster ab und zu ihre räuberische Aufwartung machten, auch gegen die Touristen. Noch durch einen niedrigen Gang mit seitlich aufgemauerten Wartebänken hindurch, dann sehen wir die in der Mitte eng eingefügte Kirche, um die herum unten die Mönchszellen liegen. Im zweiten Stock kann man über Wehrgänge und Flachdächer laufen, auf denen sich das Wasser für die Zisternen sammeln kann. Das Dach ist mit aufgepinselten Blumenmustern geschmückt. Von dort kann man weit hinunter aufs Meer sehen, die kahlen terrassierten Berge rundum, die wenigen grünen Tupfen mit Wein unten und die nächsten Kapellen auf den Höhen. Im Mauergeviert ringelt sich Bougainvillea um Säulenreste, aus allen Blumentöpfen quillt Blühendes oder Nützliches heraus, auch Auberginen oder Tomaten. Katzen räkeln sich, liegen auf den Treppen oder zwischen den Blumen. Die Kalkschicht an den Wänden ist so dick geworden im Laufe der Jahre, dass die Reliefs von Pferden und Kreuzen kaum noch heraustreten.
Kloster Taxiarchis Fast wie eine Burg in the middle of nowhere
Loukoumia vom Mönch
Ein älterer Herr mit schwarzem Pulli, schwarzer Hose und einem flachen Käppi auf dem Kopf stellt sich als Vikarios Makarios vor, der einzige hier lebende Mönch. Aha, ein Mönch in Zivil, das hatten wir noch nicht. Über 60 Jahre ist er schon Mönch, einen Großteil davon hier im Kloster. Für 60 Mönche wäre hier Platz, und so viele waren sie früher auch. Nun sind sie alle weggestorben oder weitergezogen, nur er wohnt hier noch. Was, wir sind schon mal hier gewesen? Da müssten wir uns doch an ihn erinnern! Nein, ehrlich nicht! Wir waren im Winter zufällig da, als eine Totenfeier, eine 40-Tage-Feier, stattfand. Da haben wir mit dem Popen gesprochen. Ein bisschen beleidigt ist Makarios schon. Wir hätten uns doch erinnern müssen, grummelt er, nur so ein kleines bisschen eitel. Nun denn, er kommt gleich und zeigt uns die Kirche. In Windeseile zieht er sich einen grauen Mönchskittel über, schließt die Kirche auf, bietet uns süße Loukoumia an und wird dienstlich. Im Stile eines Fremdenführers macht er auf seine Kostbarkeiten aufmerksam: Das Kloster wurde 1572 gebaut. Die dreischiffige Kirche mit Kuppel über der Vierung ist zwar neueren Datums, enthält aber einen alten Kern. Verwitterte Fresken zeigen den Kampf des Erzengels Michael gegen den Drachen aus der Offenbarung des Johannes. Der Leuchter aus Ägypten, das marmorne Bodenrelief mit dem Doppeladler, Wappen von Byzanz, stammt von 1659, die Ikonostase, die Ikonen, das arabische Lesepult mit den Einlegearbeiten aus Perlmutt, den Stuhl des Bischofs, alles sollen wir bestaunen. Die Erzengel Michael und Gabriel, gleichzeitig die Schutzpatrone der Insel, wachen über das Kloster seit jeher.
Vorne bei den Kerzen liegt auffällig einsam ein geknickter 20-Euro-Schein. Aha, ein dezenter Hinweis, schon verstanden. Eilig verabschiedet sich nun Markarios. „Echo douliá!“, ich habe noch zu tun, bedeutet er uns und verabschiedet sich mit einer huldvollen Handbewegung. Wir sind entlassen. Eine Haushaltshilfe wischt und schrubbt im ersten Stock. Für Hausarbeit, schnöde Reinigungsarbeiten, ist hier ein Mönch, eben auch ein Mann, nicht zuständig.
Text und Bild von Hiltrud Koch
Naächste Woche lesen Sie u. a. über eine Kreuzkuppelkirche, hauseigenen Wein, ein verlassenenes Bergwerk und schöne Strände.