Keine 30 Kilometer nördlich von Athen beginnt der Parnitha-Nationalwald, ein 300 km2 großes Naturschutzgebiet. Das, vom Meer abgesehen, größte geschlossene Naturareal vor den Toren der Hauptstadt ist die naheliegendste Möglichkeit für die Athener, dem Lärm der Stadt und der Betriebsamkeit der Menschen zu entkommen.
Mit seinen stattlichen Bergen, 16 davon sind über 1.000 m hoch, seinen Tälern, Schluchten, Flüssen, Wasserfällen, Höhlen und über 50 Quellen einerseits sowie seinen Klöstern, antiken Befestigungsanlagen und Berghütten andererseits bietet der Parnitha eine Vielfalt von reizvollen Ausflugszielen. Besonders leicht und schnell kommt man mit dem Zug oder dem Auto von Osten an das Waldgebiet heran. Von dort, wo für viele Athener der Sonntagsausflug schon endet, in den drei vorzüglichen Grilltavernen rund um den Bahnhof von Afidnes, lassen sich einige schöne Spaziergänge unternehmen, nach denen der Appetit allemal größer ist.
Afidnes ist ein schöner Flecken am nordöstlichen Rand des Parnitha-Waldes, nur drei Kilometer entfernt vom Marathon-See. Der Ort liegt links von der Nationalstraße nach Lamia, zwei Kilometer hinter der ersten Mautstelle, und ist in einer guten halben Stunde per Auto von Athen aus zu erreichen. Die modernen Züge vom Athener Hauptbahnhof (Stathmos Larissis) nach Chalkida und Stilida, die hier mehr als 20mal am Tag halten, benötigen sogar nur 29 Minuten für die Strecke und sind nach wie vor ausgesprochen preiswert (3,50 Euro hin und zurück). Am Wasserturm neben dem zu den Olympischen Spielen renovierten Bahnhof eröffnete vor einem Jahr das Café „Hydatopyrgos".
Neben der günstigen Verkehrsanbindung zeichnen Afidnes vor allem zwei Merkmale aus. Es ist die erste Ortschaft außerhalb des von den Bergen Ägaleo, Parnitha, Penteli und Ymittos gebildeten Athener Beckens. Dadurch leidet es weder unter der Luftverschmutzung noch unter der Aufheizung des Athener Kessels. Afidnes hat stets eine saubere Luft und eine sommers wie winters zwei bis vier Grad niedrigere Temperatur als die Hauptstadt.
Die Parnitha-Flora mit über 1.000 verschiedenen Arten ist beherrscht von Mittelmeerbüschen, Kiefern und der Keffaloniki-Fichte. Selbst wenn im 19. und 20. Jahrhundert Braunbär, Luchs, Grauwolf, Wildkatze und Wildschwein ausstarben, ist die Fauna noch bemerkenswert reich. 42 der 116 Säugetierarten Griechenlands finden sich hier. Eine Population von 400 Rothirschen hat sich erhalten. 1961 wurden Kretische Gämsen ausgesetzt, die sich in kleiner Zahl durch die Berge schlagen. Außerdem gibt es zahlreich Füchse, Hasen, Igel, Wiesel und Fledermäuse neben Schildkröten, Salamandern und vielen Vogelarten.
Das Dorf Kiourka
1845 gab es im Gebiet des heutigen Afidnes nur zwei Ortschaften. Eine davon war das Dorf Kiourka, das albanische Siedler, die sogenannten Arvaniten, im 14. Jahrhundert gründeten. Der Name Kiourka stammt vom albanischen Wort Tsourka ab, das soviel wie Quelle mit viel Wasser bedeutet. Eine solche Quelle befindet sich auf der schönen Platia, dem Platz des Dorfes. Im Zuge einer nationalstaatlichen Gräzisierungspolitik wurde dem Dorf und dem ganzen Gebiet vor einigen Jahrzehnten der Name Afidnes gegeben. Afidnes war eine von den zwölf Gemeinden, die im 15. Jahrhundert v. Chr. die Stadt Athen ausmachten. Ein bedeutender Afidner war der Feldherr Kallimachos, der sich im 5. vorchristlichen Jahrhundert beim Kampf der Athener gegen die Perser hervortat. Trotz der offiziellen Sprachregelung ist der alte albanische Name nach wie vor gebräuchlicher.
Die Liosati-Siedlung
Viel näher am Bahnhof als Kiourka ist die zweite alte Siedlung. Folgt man der Asphaltstraße, die zuerst an den Schienen entlang Richtung Athen und dann auf den Wald zu läuft, erreicht man schon nach einer Viertelstunde Liosati. Zwischen den niedrigen Katen und Ställen, die sich als Mauer an der gewundenen Straße entlang ziehen, scheint die Zeit mindestens 50 Jahre stehen geblieben zu sein. Wegen des wunderbar rückständigen Flairs wurden hier schon mehrere Filme gedreht, vor allem solche, die während der deutschen Besatzungszeit spielen und das Elend der armen Leute zeigen.
In Liosati gibt es heute noch fünf Leute und reichlich Schafe. Deswegen ist die frisch asphaltierte Straße stellenweise von Mist bedeckt und das ganze Dorf riecht kräftig. Am Ende des Dorfes, nach einem kleinen Anstieg, gelangt man zu einem Brunnen und einer kleinen Kirche, die, wie eine Tafel anzeigt, der „Afidnos"-Verein im Jahre 2001 renoviert hat. Von hier hat man einen schönen Ausblick auf das Tal und das Dörfchen, neben dem gerade ein großes, modernes Haus gebaut wird, das im starken Kontrast zum Charakter des Fleckchens steht.
Das Profitis-Ilias-Kloster
Hinter Liosati führt die Asphaltstraße rechts steil hinauf am Rand des Waldes entlang. Der Wald ist hier nicht älter als 60 Jahre. Er wurde im 2. Weltkrieg von den Deutschen abgebrannt, um gegen die Partisanen, die sich darin zurückgezogen hatten, vorgehen zu können. Der Fußmarsch an einzelnen Häusern vorbei ist wegen der Steigung etwas beschwerlich. Nach einer halben Stunde stößt man im Wald auf ein Hinweisschild zum Kloster, das sich etwas oberhalb befindet. Hier endet die Asphaltierung.
Profitis Ilias (Prophet Elias) ist ein ruhiges Kloster ohne besondere Schätze und Legenden. Es wird derzeit von 30 Nonnen bewohnt. Besucher dürfen das Gelände und die kleine Kirche des Klosters morgens zwischen 8 und 11.30 Uhr und nachmittags zwischen 16.30 Uhr und 18.30 Uhr betreten. Die freundlichen Nonnen bieten stets ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee an und gewähren frommen Frauen auch Zutritt zum inneren Bereich des Klosters. Zurück kommt man entweder auf dem selben Weg oder indem man den Sandweg an dem Hinweisschild weitergeht und sich immer rechts hält, so dass man nach einer halben Stunde auf einen größeren zerfurchten Weg kommt, der abwärts zu der schönen kleinen Kirche „Zoodochos Pigi" und weiter hinunter ins Charadros-Tal führt, wo man auf ebenen Wegen zum Bahnhof zurück gelangt. Für diese Runde benötigt man anderthalb bis zwei Stunden.
Das Charadros-Tal
Afidnes liegt in einem der schönsten Täler Attikas, im Rücken den Katsimidi, vor sich den Marathon-See. Das Tal hat der Charadros-Fluss durch den Parnitha gegraben. Sein Einzugsgebiet umfasst 185 qkm. Der Charadros mündet in den künstlichen Marathon-See, der 1925 durch den Bau einer 54 hohen Mauer angestaut wurde und seit 1931 die Wasserversorgung von Athen gewährleistet. Aus diesem Grund ist jegliche Bebauung, Industrie oder intensive Landwirtschaft auf der Afidnes gegenüber liegenden Seite der Nationalstraße verboten.
Im Tal wurden noch vor 30 Jahren ausschließlich Oliven und Wein kultiviert. Heute gibt es durch die Gärten der Landhäuser mit ihren Bewässerungsmöglichkeiten mehr Bäume und Sträucher sowie insgesamt eine reichere Vegetation im Tal. Nach wie vor ist Afidnes ausgesprochen ruhig und natürlich. Der Verstädterung ist es ebenso entgangen wie der Bebauung mit Sommerhäusern, was einerseits dem Bauverbot durch das Natur- und Trinkwasserschutzgebiet, andererseits der ausnahmsweise strengen Einhaltung der Bauvorschriften zu verdanken ist, die eine Parzellierung des Landes erschweren.
Selbst dass in den letzten zwei Jahrzehnten im Tal und an den Berghängen von Afidnes einzelne Häuser gebaut wurden, hat der Gegend nichts Vorstädtisches gegeben. Auf großen Grundstücken haben wohlhabende Athener ihren Stilvorlieben Ausdruck verliehen. So findet sich neben moderner und traditioneller Architektur, die sich harmonisch ins Landschaftsbild einpasst, auch mal ein Alpenhaus oder ein Schloss im Bürgerformat.
Wer nicht über Liosati den Weg am Waldrand nimmt, um durchs Tal zum Bahnhof zurückzukehren, kann geradewegs vom Bahnhof mitten durchs Tal an Olivenhainen, Weinfeldern und größeren Grundstücken entlang spazieren. Auf einen wasserführenden Fluss stößt man dabei nicht, denn der Charadros ist zumeist ein trockenes, verwachsenes Flussbett. Der Weg führt mit einigen Kurven und leichten Biegungen drei Kilometer ins Tal hinein, wo er schließlich aufhört und der Wald auch die Talsohle ergreift.
Der Katsimidi
Schon in geringer Entfernung vom Bahnhof kann man den Katsimidi neben anderen Bergen weit entfernt über dem Wald sehen. Man erkennt ihn an dem weißen Haus, das auf seiner Spitze steht. Der Weg zum Katsimidi führt in jedem Fall am linken Hang des Tals entlang. Im leichten Auf und Ab, mit schönen Ausblicken auf die Talschlucht, den Wald und gelegentlich den Katsimidi stößt der breite Schotterweg nach sechs Kilometern auf die Straße zwischen Malakassa und dem einstigen Königspark von Tatoï. Der Katsimidi scheint nun zum Greifen nah und der Aufstieg zur Spitze die Anstrengung einer Stunde zu sein.
Indessen führt der gegenüberliegende Weg mit einem kleinen Rinnsal, an dem Breitrandschildkröten (Testudo marginata), die größten Landschildkröten Europas, geräuschvoll grasen, lediglich zu einer Pfadfinderhütte hinauf und von dort rechts ab. Um auf den Katsimidi zu kommen, muss man der Asphaltstraße einen Kilometer nach links folgen, wo man auf einen Orientierungspunkt mit ausgewiesenen Radwegen stößt. Spätestens an dieser Stelle sollten Wanderer umkehren, denn der Weg ist noch weit und an seinem Ende erwartet den gut trainierten Wanderer nach anderthalb Stunden eine herbe Enttäuschung. Ein großes Tor und die Drahtzäune eines Militärgebiets versperren den Zugang auf den 849 m hohen Berg.
Selbst wenn in griechischen Zügen bislang die Mitnahme von Fahrrädern nicht gestattet ist, empfiehlt sich deshalb ein Ausflug zum Katsimidi vor allem für Mountainbike-Fahrer, die die abgelegene, reizvolle Strecke ganz für sich und dabei fantastische Aussichten auf das attische Land, Athen und den Parnitha-Wald haben.
Die Tavernen
Von welchem Ausflug man auch zurückkommt, es empfiehlt sich, in eine der drei Tavernen einzukehren. „Mannaras" liegt gleich hinter dem Bahnhofsgebäude, „Makis" (bzw. „Folia") 300 m vom Bahnhof entfernt an der Eisenbahnbrücke Richtung Kiourka, „Giannis" in etwa der gleichen Entfernung, gerade in der Mitte vom Charadros-Tal. Alle Lokale bieten saftig gebratenes Fleisch an und sind an den Wochenendnachmittagen sehr gut besucht. Nach Meinung der Einheimischen wird bei „Makis" der beste Retsina ausgeschenkt.
Wer mit dem Zug zurückfährt und deutsche Verhältnisse kennt, wo sämtliche kleineren Bahnhöfe verlassen und mitunter verwahrlost sind, wenn überhaupt noch Züge halten, der ist vielleicht erstaunt, dass das Bahnhofshäuschen besetzt ist und man, falls man hier eine Fahrkarte löst, ein kleines Pappbillett erhält, das der Zugschaffner später mit einer antiquierten Zange locht. Es ist offensichtlich, dass die griechischen Staatsbahnen mit ihrem kleinen Eisenbahnnetz ein beträchtliches Automatisierungsdefizit haben. Deswegen ist auch jeder Bahnübergang besetzt, um die Schranke zu bedienen. Gleichwohl hupen die Züge beständig während der ganzen Fahrt, um Autos und Fußgänger auf sich aufmerksam zu machen.
Patrick Hofmann