Lesbos – eine Frühlingsreise an den Golf von Kolloni und nach Vatera
In den ersten Frühlingsmonaten lockt die Insel Lesbos keine Massen an, doch kommen einige wenige immer wieder, um zu dieser Zeit zu wandern oder nach Vögeln Ausschau zu halten.
Mai an den endlos scheinenden Stränden des Badeorts Vatera an der Südküste der Insel Lesbos und jenen des Golfs von Kalloni, der sich vom Süden tief in das Herz der Insel einschneidet. Duschen funktionieren. Liegestühle und Sonnenschirme stehen in hübschen Grüppchen vor den Restaurants, Cafés, Pensionen und kleinen Hotels bereit. Aber, obwohl warmes, sonniges Wetter vorherrscht, lässt sich kaum jemand zum Sonnenbad nieder oder schwimmt im noch recht frischen Meer. Zwischen 18 und 21 Grad Celsius ist die Wassertemperatur im milderen Golf, zwischen 17 und 20 an der offenen Küste. Statt dessen sieht man einzelne Personen und kleine Gruppen, ausgerüstet mit Ferngläsern, großen Kameras und Stativen still an den Rändern des Feuchtgebiets von Skala Kallonis verharren oder entlang der Flüsse und Salinen bei Kalloni und Skala Polichnitou ziehen. Ende April bis Mitte Mai ist die beliebteste Saison für Vogelliebhaber, von denen viele Jahr für Jahr in die Gegend zurückkehren. Auch zum Wandern sind die Frühlingsmonate, wenn hier alles grünt und blüht, hervorragend geeignet.
Groß ist der Touristenansturm aber nicht um diese Zeit in der ohnehin verhältnismäßig wenig von internationalem Tourismus frequentieren Gegend. So holen die Einheimischen nochmal tief Luft zwischen zwei Schlachten: der Schlacht des Winters – und der des Sommers. Im Winter geht es vor allem um das Abernten der Olivenbäume, die fast jede Familie besitzt. Die Schlacht des Sommers, das ist für die einen der Dienst am Touristen, für die anderen der Fang der weltberühmten, besonders zarten und schmackhaften Sardinen von Kalloni. Fromme und fröhliche Feste fallen in diese Zeit des Luftholens und Innehaltens.
Ein Paradies für Ornithologen
Beliebter Treff- und Stützpunkt der (Hobby-)Ornithologen ist das Fischer- und Feriendorf Skala Kallonis in der Mitte des Golfs von Kalloni. An der Rezeption des Kalloni Bay Hotels am Westende des Dorfs liegt ein Beobachtungsbuch aus, in das viele Gäste und Besucher täglich eintragen, welche Vögel sie in welcher Zahl wo gesehen haben. Sowohl das Feuchtgebiet am westlichen Rand von Skala Kallonis als auch der Lauf des Tsiknias-Flusses an seinem östlichen Ende bieten im Frühjahr reichlich Gelegenheit, Vögel wie Bruchwasserläufer (Tringa glareola), Stelzenläufer (Himantopus himantopus) und viele Reiherarten zu beobachten. Der Flussname Tsiknias ist Bestandteil der griechischen Bezeichnungen für einige Reiherarten, zum Beispiel Mikrotsikniás (Zwergdommel oder Ixobrychus minutus), Lefkotsikniás (Seidenreiher oder Egretta garzetta) und Kriptotsikniás (Rallenreiher oder Ardeola ralloides). Durchwandert man die angrenzende Gegend, sieht man immer wieder schwarze und weiße Störche, Schnepfen und Lerchen. Geht man weiter Richtung Osten, so trifft man auf die Salinen von Kalloni mit ihren Flamingos, Säbelschnäblern und vielen Reiherarten.
Kaum weniger ergiebig ist die Pirsch auf Vögel an den Salinen von Skala Polichnitou, die den Vorteil haben, dass sie weniger abgezäunt sind, so dass man näher an die Vögel herankommt.
Doch freilich wird man nicht allein am Golf von Kalloni fündig, wenn man interessante Tiere beobachten will. Ein schöner Spaziergang für Naturliebhaber führt auch entlang dem Almiropotamos-Fluss, der zwischen dem Ferienort Vatera mit seinem langen Sand-Kiesstrand und dem Kap Agios Fokas ins Meer mündet. Neben vielen der oben aufgeführten Vögel kann man hier auch beobachten, wie sich Wasserschildkröten im Fluss tummeln.
Panigyria – Kirchenfeste
Der Mai ist auch ein Monat, in dem auf Lesbos viele traditionelle, lokale Kirchenfeste gefeiert werden. In der Nähe von Vatera und dem Golf von Kalloni sind das vor allem die Feste des Evangelisten Johannes (Ioannis Theologos), der Heiligen Konstantinos und Eleni und das Stierfest in Agia Parasevi.
Festlich begangen wird der Gedenktag des Heiligen Johannes am 7. und 8. Mai im Dorf Napi bei dem in der Inselmitte zirca 13 Kilometer von Skala Kallonis entfernt gelegenen Agia Paraskevi.
Die Heiligen Konstantinos und Eleni feiert man vor allem in dem zirca drei Kilometer oberhalb des Badeorts Vatera gelegenen Bergdorf Vrissa, zu dem übrigens ein schöner, schattiger Fußweg durch den Wald hinaufführt. Am Vorabend des 21. Mai wird auf den Dorfplätzen musiziert und getanzt. Am Festtag selbst zieht nach dem festlichen Gottesdienst eine Prozession mit Heiligenikonen durch das Dorf. Panigyri nennt man ein solches Kirchenfest, bei dem das ganze Dorf auf den Beinen ist.
Bei Agia Paraskevi wird Ende Mai, manchmal auch erst im Juni, zu Ehren des Heiligen Charalambos ein Stier geopfert, den man am Feiertag des Heiligen, dem 10. Februar, ausgewählt hatte. Mit Blumen geschmückt wird das Tier zunächst durch das Zentrum von Agia Paraskevi geführt. Mädchen nähern sich ihm, um ihn zaghaft zu berühren, mit weiteren Blumen zu schmücken und Gelübde und Bitten vorzubringen. Am Samstag macht sich der Pilgerzug auf den 18 Kilometer langen Weg zur Kapelle des Heiligen. Dort wird die Nacht über campiert, bevor am Sonntagmorgen Glockengeläut zur Opferstätte ruft, wo das Opferritual abläuft. Zum insgesamt vier Tage dauernden Fest gehören auch Pferderennen und traditionelle Tänze.
Mit Pferderennen, Musik und Wein wird das Kalloni Festival der Heiligen Dreifaltigkeit am Pfingstmontag gefeiert.
Polichnitos und sein Thermalbad
Das im Landesinneren zwischen Skala Polichnitou und Vatera gelegene Polichnitos ist der Mittelpunkt der reichen Olivenregion, wenngleich seine Bevölkerung und Bedeutung heute geringer sind als einst. Heute stehen viele seiner stattlichen, städtisch und herrschaftliche wirkenden alten Steinhäuser leer – ein schönes Fotomotiv mit ihren wuchtigen, phantasievollen Steinfassungen, die Tür- und Fenster einrahmen, ihren teils schon recht verfallenen Mauern und verwilderten Gärten. Auf dem hohen Ziegelschornstein der alten Olivenmühle von Polichnitos nistet ein Storch. Ein Natur- und ein Volkskundemuseum gibt es in dem Ort. Doch Hauptattraktion ist das kleine Thermalbad von Polichnitos mit seinen radioaktiven, natriumchloridreichen Thermalquellen, die als die heißesten Europas gelten, in ihrer Zusammensetzung den Heilquellen von Wiesbaden ähneln und positive Wirkung unter anderem bei Rheuma, Arthrose, Frauenleiden und Hautkrankheiten zeigen.
Hier ist Thermalbaden sinnlich erlebbar. Die niederen Steinbauten mit ihren nach Geschlecht getrennten beiden Gemeinschaftsbecken unter Steinkuppeln sowie dem Einzel-Wannenbad liegen inmitten einer herrlichen Landschaft, in der das Thermalwasser blubbernd und dampfend in einem kleinen Bach pĺätschert, die Luft mit schwefeligem Geruch erfüllt und die Steine in seinem Bett und an seinen Ufern in verschiedene Gelb-, Rot- und Rosttöne färbt.
Vatera an der Südküste
Die Pension Irida am östlichen Ortsende von Vatera ist eine der wenigen, in der schon ordentlich Betrieb herrscht. Die meisten Gäste sind Stammgäste und wissen somit die Vorzüge des Mais zu schätzen, so dass sie Jahr für Jahr gern um diese Zeit wiederkommen. Heute hat ihr Betreiber Jorgos eine Extra-Arbeit. Der Südwind hat große Wellen auf die Küste zugetrieben. Das ist er gewohnt. „Immer in der letzten Maiwoche weht es noch einmal heftig aus Süden, dann ist lange Ruhe“, meint er, während er mit Schaufel und Schubkarren den Schaden behebt, den der Sturm angerichtet hat. Und doch war der Effekt diesmal überraschend. Meist schwemmt der Wind Sand und manchmal auch etwas Treibgut an, diesmal hat er den Sand weggetragen. Meer und Wind sind eben immer für Überraschungen gut. Alle fünf tief eingegrabenen Sonnenschirme sind in Schieflage geraten. Jorgos stabilisiert sie wieder. Nachdem das geschafft ist, macht er sich an die Pflege seines großen Gemüsegartens, den er in diesem Jahr auf dem schmalen Grundstück neben seinem Gästehaus angelegt hat: Kartoffeln, Zucchini, Bohnen, Auberginen, Tomaten, rote Beete, Zucker- und Wassermelonen, Kräuter und vieles mehr. Er will dieses Jahr nicht nur mit Obst und Oliven, sondern auch mit Gemüse Selbstversorger sein. Ursprünglich hatte er erwogen, auf dem Grundstück weitere Touristenunterkünfte zu errichten. Doch die Einnahmen aus dem Tourismus sind rückläufig, während Ausgaben und Abgaben laufend steigen. Mehr noch als ihm mit seinen Stammgästen macht das anderen Hotels und Pensionen in Vatera zu schaffen. Mehrere von ihnen haben wie Jorgos damit begonnen, Gemüse auf den leeren Parzellen zu pflanzen, um angesichts der schwierigen Lage über die Runden zu kommen.
Obwohl sich der Wind zum Morgen etwas gelegt hat, sind die Wellen noch zu kräftig, um entspannt zu baden. Das ist verhältnismäßig selten hier. Meist ist das Meer ruhig und selbst wenn es etwas bewegt ist, wirbelt es keinen Sand oder kein Seegras auf und ist immer noch einladend licht und klar. Denn der Meeresgrund besteht vorwiegend aus feinem Kies ebenso wie – mit Sandstreifen durchsetzt – der Strand. Schöne, bunte, rundliche Kiesel, die angenehm unter den nackten Füßen sind. Zum Schwimmen wäre es heute besser im Golf, meint Jorgos. Tatsächlich hat man je nach Wetterlage eine Alternative zwischen den nur knapp über zehn Kilometer auseinander liegenden Stränden inner- und außerhalb des Golfs. Bei Nordwind kann es im Golf ungemütlich werden, bei Südwind außerhalb.
Der Frühling ist ideal für Wanderungen.
Kriegsflüchtlinge damals und heute
Dass hier die Touristenzahlen rückläufig sind, während insgesamt Griechenland im Trend zu liegen scheint, führt Jorgos auf Bedenken mancher Gäste wegen der in den Medien stark thematisierten Flüchtlingsproblematik auf den ägäischen Inseln zurück, wobei Lesbos immer wieder im Fokus steht. Einen anderen Grund wüsste er nicht. Dabei trifft man zurzeit weder in der Hauptstadt Mytilini noch in den hier vorgestellten Ornithologen- und Touristengebieten auf Flüchtlinge aus aktuellen Kriegsgebieten wie Syrien. Dafür sorgt offenbar vor allem die gegenwärtige Flüchtlingspolitik der Regierung und ihrer EU-Partner mit ihrer Eindämmung der Flüchtlingsströme durch politische Mittel und der Sammlung aller Ankömmling in geschlossenen, sogenannten Hotspots, wie hier auf Lesbos bei Moria.
„Ja, Kriege und Flüchtlinge gab es leider immer. Man muss halt helfen, wo man kann“, meint Tavernenwirtin Stratoula Kanellou, die die Taverne Gialos zwischen den Fischerdörfern Skala Polichnitou und Nifida führt. Mit Flüchtlingen, die in letzter Zeit ins Land kamen, kam sie bislang nicht in Berührung. Von denen verschlägt es offenbar niemanden hierher in den Golf von Kalloni. Aber vor über zwanzig Jahren hatte sie ein Kind aus einem Kriegsgebiet in ihre Familie aufgenommen, so wie etliche Familien in der Gegend es damals ebenfalls getan hatten. Damals war Krieg in Bosnien, und die orthodoxe Kirchengemeinde bemühte sich, möglichst viele Kinder aus dem Kriegsgebiet herauszuholen und in griechischen Familien unterzubringen. Fast alle davon sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt, nachdem wieder Frieden eingekehrt ist. Nicht so die heute 30-jährige Dragana Sobić, deren Vater im Krieg ums Leben gekommen war. Stratoula hatte das im Alter von sieben Jahren in ihre Familie gekommene Mädchen daraufhin in Absprache mit ihrer Mutter bei sich behalten. Heute ist Dragana mit einem Griechen verheiratet, lebt in Polichnitos und hat zwei kleine Töchter.
Wahrlich ein Wonnemonat
Erste Badefreuden im Meer, Thermalbaden, Wandern, Vogel- und Naturbeobachtungen, Begegnungen mit Einheimischen, die in dem Monat weniger als in den meisten anderen im Stress stehen: Viel Ruhe kann man auf der Insel im Frühjahr genießen. Der Mai, in dem alles blüht und grünt, ist ein idealer Reisemonat für alle, denen der Sinn nach mehr als reinem Strandleben und Partymachen steht und die Trubel und Menschenmassen lieber meiden.
Text Heidi Jovanovic, Fotos Jan Hübel